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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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hatte, man solle seinen Bruder wie einen tollen Hund erschießen. So sei das. Es gab nichts weiter zu diskutieren. Ihm wurde klar, dass dies sich wirklich und genau so verhielt. Hätte man die Kluft aufgerissen, dann hätte man sich trennen müssen. Dann hätte der Schuldirektor diese Männer gar nicht erst als Lehrer einstellen dürfen. Da gab es nichts mehr rückgängig zu machen.
    Er sah das ein, aber es ging ihm nicht aus dem Kopf. Die Erlebnisse, die sein Vater, dessen Bruder und auch der Großonkel in der Regimezeit gehabt hatten, waren ja letzten Endes privat, selbst die Reaktion des mutigen Onkels, die Unterlagen der jüdischen Angestellten nicht auszuliefern. Aber die Männer des Attentats waren viel weiter gegangen. Was sie vorhatten, war noch immer ganz und gar nicht unbestritten. Viele Leute waren auch jetzt noch gegen sie und ihre Prinzipien. Wie viele waren das außerhalb des Internats? Er hatte durch diese Geschichte plötzlich das dunkle Gefühl, dass die archaische griechische Landschaft, in der er sich so wohl fühlte, von einer ihm noch fremderen Welt umgeben war. Das war ein Grund mehr, sich auf die wunderbare Welt zu konzentrieren, die das Buch Die Entdeckung des Geistes in ihm aufgerufen hatte. Er wollte selbst über Literatur und ihre Geschichte schreiben können! Es kam eine weitere Anregung hinzu, die seinen neuen Ehrgeiz anstachelte. Inzwischen hatten die Deutschlehrer gewechselt. Anstelle des großartigen Griechischlehrers übernahm der ernste Geschichtslehrer auch den Deutschunterricht. Zu seinem Erstaunen sprach dieser nicht nur über die Geschichte des literarischen Themas oder seine aktuelle Bedeutung, sondern vor allem über die Besonderheit der Sprache des Theaterstücks, des Gedichts oder der Romanstelle, die sie gerade vor sich hatten. Und es gab als neue Einrichtung alle vier Wochen am Mittwoch einen sogenannten Studientag, an dem sie sich von morgens bis nachmittags um vier auf ein Hauptfach konzentrieren sollten: Deutsch, Griechisch, Latein, Geschichte und Mathematik. Bisher waren die alten Sprachen das, was er am liebsten machte. Deutsch fiel ihm sowieso zu. Jetzt aber begann dieses Fach ihn besonders zu interessieren, weil er nur hier sich an dem bewähren konnte, was ihm als Thema in dem Buch über die Entwicklung des Denkens bei den Griechen so imponiert hatte. Jetzt galt es, Texte zu analysieren.
    Analysieren! Es ging also nicht mehr um die alten Meinungsthemen, wo man eine prinzipielle Frage am Beispiel eines Literaturstücks zu beantworten oder sogar ganz ohne Bezug auf Literatur seine Ansicht zu einem schwierigen Problem zu begründen hatte. Am besten war noch die Frage, ob Michael Kohlhaas recht hatte und dennoch zu Recht hingerichtet worden war oder ob Kleist auf etwas anderes hinauswollte. Der Geschichts- und Deutschlehrer teilte an einem dieser Studientage an alle die Abschrift eines Gedichts von Goethe mit dem Titel Willkommen und Abschied aus und sagte ihnen, sie hätten zwei Stunden Zeit, Strophe für Strophe auf ihre Ausdrucksqualität hin zu beschreiben. Ausdrucksqualität sollte Grammatik, Sprachbilder, Rhythmus heißen. Danach würde man die Ergebnisse miteinander vergleichen und sie besprechen. Ja, das war es! Genau das wollte er, sagte er sich. Das leuchtete ihm sofort ein. »Analysieren« hatte dem alten Schema des Besinnungsaufsatzes voraus, dass es intelligenter klang, sozusagen wissenschaftlicher. Es war ja auch konkret auf einen Sachverhalt bezogen. Es ging nicht mehr einfach um Meinungen, auch nicht um gut vorgebrachte Argumente. Es ging um Beobachtungen, genaue Beobachtung grammatischer und stilistischer Eigenschaften und ihren Effekt auf die sogenannte Aussage. Dieses Wort, so wurde auch bald klar, gehörte zum alten System. Es gab keine Aussage, sondern einen Ausdruck.
    Aber wie schwierig war es, daraus wirklich etwas zu machen. Es konnte ja nicht dabei bleiben, das Verhältnis von Verben, Adjektiven und Substantiven zueinander aufzuzählen. Es ging ja um die Darstellung einer unmittelbaren Emotion. Also um mehr als den Inhalt mit anderen Worten und etwas psychologischem Beiwerk wiederzugeben? Er geriet bei der Niederschrift mehrfach in eine Sackgasse. Schließlich entschied er sich dafür, auseinander zu legen, wie in den ersten beiden Strophen des Goethegedichts ein Gefühlsdrama vor sich ging und in den folgenden beiden die Auflösung des Dramas. Das ergebe sich schon aus den Naturbildern. Es fiel ihm auch etwas ein über die sogenannte innere

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