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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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jüngeren Schwester, einer begabten Künstlerin, die lange in England gelebt und der der Bruder schon vor dem Krieg seine Pläne anvertraut hatte. Obwohl sie alle konservativ dachten, habe er seit seiner frühen Juristenzeit starke Sympathien für einige Sozialisten im Westen empfunden, besonders für einen Mann namens Julius Leber. Nach jener Autofahrt habe sie ihren Mann nicht mehr wiedergesehen. Erst eine Woche nach dem Attentat sei ihr von einem Funktionär der Geheimen Staatspolizei in der nahen mecklenburgischen Provinzhauptstadt mitgeteilt worden, dass ihr Mann als einer der Hauptverdächtigen verhaftet worden war. Im übrigen wurde sie korrekt behandelt, weil ihr Schwiegervater, ein hoher General im Ersten Weltkrieg und vorher als junger Mann Militärattaché in London, der 1939 gestorben war, ihr einen gewissen Schutz gab.
    Diese Erzählung der Witwe des Hingerichteten prägte sich ihm tief ein. Abgesehen von seinem Vater hatte bisher noch niemand so über diese Zeit gesprochen, die ja erst sechs Jahre her war. Später erzählte sie ihm noch von dem Schlusswort, das ihr Mann während des Prozesses gesprochen hatte, das von einem Anwesenden aufgeschrieben und mit versteckter Post ihr zugekommen war. In diesem Schlusswort war die Rede davon, dass er sich klar darüber sei, gehängt zu werden, dass er diese Tat aber nicht bereue und hoffe, ein anderer mit mehr Glück könne sie noch ausführen. Das hatte ihr Mann dem Richter ins Gesicht gesagt. Was für eine Selbstsicherheit, was für eine Kühnheit, wenige Stunden vor der Hinrichtung. Wahrscheinlich war dieser Satz, den er achtzehnjährig hörte, der Grund dafür, warum er nie mehr Zweifel hatte an dem außerordentlichen Charakter dieser Männer.
    Die Nazizeit ließ ihn nicht in Ruhe. Vor allem die Tatsache, dass die beiden Lateinlehrer offenbar dem System sympathisierend gegenübergestanden hatten. Auch der nette Chemielehrer, der die Schüler einschließlich der Untertertia unterrichtete, sollte bis ans Ende an das Regime geglaubt haben. Er war sogar ein Führer der Staatsjugend gewesen. Vorher in der Jugendbewegung. Ein ungemein sympathischer, begabter Pädagoge. Kein Mensch fragte danach, wie tief er verwickelt gewesen war. Seine Wirkung auf die jungen Schüler hatte etwas besonders Verführerisches. Allein wie er sie ansah. An manchen Abenden hatte er ihnen spannende Geschichten von E.T.A. Hoffmann, Merimée und von russischen Erzählern vorgelesen. Seine Auswahl war großartig und zeugte für seinen literarischen wie pädagogischen Sinn. Er vermittelte ihnen das Gefühl, dass es wichtig sei, im Internat zu leben. Und dann begann er, unter viel Beifall, Theaterstücke zu inszenieren. Der Junge selbst war davon nicht so begeistert. Diese neuen Inszenierungen hatten eine Tendenz zu großartigen Themen. Sie hatten nicht den geistigen Witz des verschwundenen Deutschlehrers und seiner Komödien. Unvergesslich war ein Ausflug mit diesem Chemielehrer, oben jenseits der Wege zum Feldberg, wo sie als Vierzehnjährige in Zelten übernachteten und sich in einem riesigen Kessel Bohnensuppe kochten. Beim Holzfällen verunglückte der Chemielehrer um ein Haar tödlich, als eine niedergehende große Tanne ihn am Bein erwischte, sodass er seitdem etwas hinkte.
    Es gab sicher auch Kinder, deren Eltern das Komplott noch immer verurteilten. Der berühmte Juraprofessor war wohl nicht der einzige. Auch andere Väter hatten vom Regime zumindest Vorteile gehabt, nicht zuletzt, wenn sie Professoren waren. Und das war nur möglich gewesen, weil sie Ansichten vertreten hatten, die sich mit diesem nicht überkreuzten. Das wusste er. Das hatte ihm der Vater erzählt, der von der damaligen Professorenschaft nicht viel hielt. Wenn er dem Vater stolz erzählte, wie viele Mitschüler Professoren zu Vätern hätten, sagte der Vater: »Na und?«. Wie seltsam, dachte er oft, dass hier alle unter dem Dach dieser Schulidee lebten, Schüler, deren Väter noch vor wenigen Jahren nicht bloß unterschiedlich politisch dachten, sondern sich ans Messer geliefert hätten. Es ließ ihn nicht in Ruhe, und er fragte noch einmal denjenigen Menschen, dem er inzwischen am meisten vertraute, und das war die Witwe. Wie konnte sie es mit den beiden Lateinlehrern aushalten? Sie fragte zurück, ob das eine Kritik sei. Er antwortete, er wundere sich nur. Das Leben müsse weitergehen, meinte sie. Sie redete längst schon wieder mit der Familie des älteren Bruders ihres Mannes, der nach dem Attentat gesagt

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