Granatsplitter
liebenswürdigeren Mann mit einem Profil, wie er sich klassische Römer vorstellte, während sein Mentor nicht gerade hässlich war, aber doch ein irgendwie verrutschtes Gesicht hatte. Er ballte oft aus innerer Anteilnahme die Faust, wenn er ihnen einen langen Satz von Tacitus auseinandersetzte. Er war dann mittendrin in der psychologischen Situation des ersten Jahrhunderts nach Christus. Überhaupt erklärte er die frühe Kaisergeschichte mit einem gewissen energischen Schwung und fast diebisch wirkendem Vergnügen an ihren düsteren Seiten. Zu diesem Zeitpunkt lernte der Junge am meisten und wurde einer der Besten in Latein. Der Lateinlehrer mit dem römischen Profil hatte nicht dieses Vermögen, die Klasse zu fesseln. Er verfolgte das harmonische Prinzip. Von Harmonie sprach er, wenn sie Cicero oder später Vergil lasen. Er zeigte ihnen bei solcher Gelegenheit Bilder von Augustus oder von Octavian, ein Name, der ihm besser gefiel als Augustus. Er klang kriegerischer. Langweilig war es nicht. Schon diese enorme Ruhe, die der Lateinlehrer mit dem römischen Profil ausstrahlte. Nicht nur die Worte, sondern die Handbewegungen, die die Worte begleiteten, waren nach seiner Vorstellung so, als redete ein Römer der klassischen Epoche. Der vierschrötige Lateinlehrer war wie ein intelligenter Sklave in der Kaiserzeit, der harmonische Lehrer wie ein gebildeter Senator zur Zeit der Republik. Mit ihm lasen sie vor allem Vergil, und dessen ganze Majestät kam über sie. Es war wunderbar! Allerdings erklärte der harmonische Lehrer selten etwas über die Geschichte der Zeit. Irgendetwas hinderte ihn. Er beschränkte sich auf Grammatik und Wortschatz und die schöne Sprache. Wie die Sprecher wirklich waren und wie sie lebten, das musste man sich mehr oder weniger selber ausmalen.
Warum die beiden Lateinlehrer nicht mehr an der Universität unterrichteten, wurde zunächst nicht erörtert. Die Schule und das Philosophenarchiv waren ja auch eine Art Universität. Aber dann sprach sich herum, dass beide nicht mehr an der Universität lehren durften. Es hieß, sie seien in das Regime verwickelt gewesen. Der harmonische Lehrer mit dem klassischen Gesicht war, obwohl damals noch sehr jung, Rektor einer großen Universität im Süden gewesen. Er hatte zu Beginn seiner Hochschullaufbahn eine neue Interpretation zu dem Buch Germania von Tacitus geschrieben, was große Anerkennung bei den Kulturbehörden gefunden hatte. Der unharmonische Lehrer hatte, obwohl er sich hauptsächlich mit der archaischen Vorzeit der antiken Gesellschaften beschäftigte, bei Ausgrabungen in norddeutschen Mooren mitgearbeitet. Es ging dabei um das Auffinden weiblicher Skelette, an denen man demonstrieren wollte, wie germanische Stämme ehebrecherische Frauen bestraften. Von dieser Vergangenheit der beiden Lehrer kam nun noch einiges ans Licht. Der harmonische Lehrer sprach nie darüber, er hüllte sich in eine gewisse in sich gekehrte Zurückhaltung. Der andere war offener. Einmal erzählte er eine Geschichte, die er wie einen Witz vortrug. Die Regierung habe ihn gebeten, bei der Öffnung des Sarges Heinrichs des Löwen in Braunschweig dabei zu sein. Als der Sarg geöffnet war und die Überreste des sächsischen Herzogs darauf hindeuteten, dass Heinrich der Löwe relativ klein gewesen war und schwarze Haare gehabt hatte, sei der oberste Chef der Geheimen Staatspolizei wütend aus der Kirche gestampft. Er erzählte es so, als ob er schon damals für die lächerlichen politischen Figuren, so nannte er sie, nur Verachtung gehabt hätte. Außerdem habe er natürlich gewusst, dass die Mutter Heinrichs des Löwen eine Italienerin gewesen war. Daher die dunklen Haare. Den Jungen wunderte es, dass man nach so vielen Jahrhunderten noch eine Haarfarbe und die wirkliche Größe feststellen konnte.
Das einzige, was der harmonische Lateinlehrer über die Zeit seiner Universitätsjahre sagte, war, dass er den gerade berühmtwerdenden bayrischen Politiker im Staatsexamen geprüft habe. Der habe es mit Auszeichnung bestanden. All diese Einzelheiten wurden ihnen nicht mit einem Male bekannt. Sie reihten sich allmählich erst zu einer vollständigen Information. Obwohl der Junge ja vom Vater und von der Mutter und dann auch durch die eigene Lektüre vom Verbrecherischen des Nazistaats unterrichtet war, empfand er keinen Widerwillen gegen seine beiden Lateinlehrer. Er hatte sie, bevor er ihre Vergangenheit an der Universität kannte, als hochintelligente Männer kennengelernt,
Weitere Kostenlose Bücher