Granatsplitter
Zeit des Gedichts. Etwas ganz unmittelbar Erlebtes sei aus der Erinnerung heraus geschrieben und das Erinnerte in einem Augenblick zusammengezogen. Und weil die Zeit nicht langte, kam er auf die Idee, einfach noch die wichtigsten Substantive jeder Strophe aufzureihen. Wie oft das Wort »Herz« vorkam und ob sich sein Sinn verändere. Und dann noch das Wort »Blick« und das Wort »sehen«. Zu erläutern, dass das wohl sehr charakteristische Wörter bei Goethe seien, dazu kam er nicht mehr, weil er nicht genau wusste, was dazu wirklich zu sagen war.
Bei der Besprechung kam er schon deshalb gut weg, weil die meisten anderen mehr oder weniger den Inhalt des Gedichts wiedergegeben hatten. Auch etwas über Goethes Gefühl. Das sei nicht die Aufgabe, sagte der ernste Geschichtslehrer. Ein Gedicht sei kein Tagebuch. Es sei überhaupt zu unterscheiden zwischen dem Gefühl eines Gedichts und dem Gefühl dessen, der es geschrieben habe. Das war neu für sie. Er hatte die Übereinstimmung nur durch Zufall vermieden. Als sie im Lateinunterricht ein Liebesgedicht von Catull gelesen hatten, da betonte der Lehrer mit dem Römerkopf nachgerade, wie wunderbar es dem römischen Dichter gelungen sei, sein Gefühl für die Geliebte auszudrücken. Die war eine bekannte Verführerin gewesen und ihr Bruder ein moralisch zweifelhafter politischer Abenteurer. Es lag nahe, in einem Gedicht aus einer Zeit vor fast zweitausend Jahren diese vergangene Zeit mit herauszulesen. Insofern verlangte der ernste Geschichtslehrer als neuer Deutschlehrer von ihnen etwas, das sie bisher nicht bedacht hatten. Das wurde diskutiert. Einige waren gar nicht davon überzeugt, zwischen Goethes Gedicht und seinen privaten Gefühlen so grundsätzlich unterscheiden zu müssen. Ihm aber war das gerade recht. Nicht weil er schon über den Unterschied von Biographie und Dichtung zu einer Ansicht gekommen war, sondern weil es zu seiner Neigung passte, neben der alltäglichen Wirklichkeit subjektiven Vorstellungen nachzuhängen.
Im Anschluss an die Analyse von Willkommen und Abschied brachte der Geschichtslehrer berühmte Bücher von zwei Professoren der Germanistik mit. Mit ihnen erklärte er ihnen noch einmal die wichtigsten Punkte, die sie vor allem bei der Erklärung von Gedichten zu beachten hätten. Die Bücher hießen Das sprachliche Kunstwerk , Die Kunst der Interpretation und Grundbegriffe der Poetik . Die Namen ihrer Verfasser vergaß er nicht mehr: Wolfgang Kayser und Emil Staiger. Emil Staigers Ausführungen fesselten ihn wegen des Begriffs »Immanente Deutung«. Allerdings kam Staiger sofort auf das allersubjektivste Gefühl zu sprechen, das der Interpret etwa eines Gedichts verstehen müsse. Und obwohl Staiger zugab, dass dies eigentlich unwissenschaftlich sei, blieb er dabei. Und er wandte sich auch gegen die Ansicht, nur beim Text stehenzubleiben. Immerhin aber sprach er vom eigenen Stil des Dichters als dem eigentlichen Gegenstand der Analyse. Und zum Stil gehöre, so lernte er, eben viel. Auch die Motive. In dem Buch Grundbegriffe der Poetik hieß das erste Kapitel »Lyrischer Stil: Erinnerung«. Was ihn an diesem am meisten beeindruckte, war die Auswahl der wunderbaren Gedichte: Goethes Über allen Gipfeln ist Ruh , Brentanos Einsam will ich untergehen und Mörikes O Pflaumenleichte Zeit der dunklen Frühe und Gelassen stieg die Nacht ans Land . Vor allem aber das Gedicht von Verlaine Et je m’en vais au vent mauvais . Es ging also nicht bloß um Stilanalyse! Es ging um das Verstehen einer einzigartigen Situation des Gefühls eines Menschen. Schon das Gehen, das Gefühl des Dahingehens in einem bösen Wind – was für ein Augenblick! Wenn man ihn noch nicht erlebt hatte, dann würde man ihn erleben, wenn man das gelesen hatte: »au vent mauvais«. Auch das Werk von Wolfgang Kayser bewunderte er, obwohl er es nicht ganz durchlas. Jedenfalls zog er aus den beiden Büchern den Schluss, dass es auf die Fähigkeit ankomme, die Form von Literatur genau zu erfassen, nicht bloß über ihre Thematik zu reden. Der Deutschlehrer gab ihnen schließlich als Hausaufgabe auf, eine lange Analyse von Eichendorffs Mondnacht zu schreiben. Sie hatten dafür eine Woche Zeit.
Die Rückgabe der Arbeit wurde für ihn ein aufregender Augenblick. Das lag aber nicht bloß an seiner Erwartung, ob es ihm wirklich gelungen sei, sondern an einem ganz anderen Umstand. Während eines Hockeyspiels, bei dem er selbst als halblinker Stürmer ein Tor geschossen hatte, sah er, wie
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