Granatsplitter
in den Film, weil das Plakat unheimlich wirkte: der Kopf eines katzenhaften Ungeheuers neben zwei großen Kerzenleuchtern. Wie sich herausstellte, war das Plakat inhaltlich gar nicht falsch gewählt. Es ging tatsächlich, wie auch der Titel ankündigte, um eine gefährliche Bestie, eine fürstlich aussehende Kreatur mit einem Löwenkopf, die das junge schöne Mädchen liebt, das sich in das Schloss der Bestie gewagt hatte. Es war eine spannende Geschichte, die im Zeitalter des französischen Barock spielte. Das war wichtig, weil dadurch das Aussehen aller Personen in ihren prächtigen Kostümen etwas Phantastisches bekam.
Dass die Bestie durch die Liebe der schönen jungen Frau erlöst wurde aus seiner Tiergestalt und sich in einen schönen Prinzen verwandelte, war für ihn aber nicht das eigentlich Fesselnde. Das Ergreifende war die unheimlich-feierliche Atmosphäre innerhalb des Löwenschlosses und der gleichzeitig furchtbare und leidende Ausdruck der Löwengestalt. Es war von einer wunderbaren Wirkung. Kein Märchen. Ein Märchen konnte einen auch beschäftigen, so wie ihn die Geschichte von der Seejungfrau lange beschäftigt hatte. Damals war er aber erst zehn Jahre alt gewesen. Jetzt entdeckte er im Märchenhaften dieses Films, in der schwarzweißen Düsternis des Schlosses und der seltsamen Melodie, die in ihm hörbar wurde, eine andere Welt der Phantasie. Er hätte gerne mit jemandem aus der Mannschaft darüber geredet. Aber zu seinem Erstaunen fanden die meisten den Film irgendwie lächerlich. Etwas für Kinder, zum Erschrecken. Er fühlte sich plötzlich unwohl in ihrem Kreis und musste wieder an die Bemerkungen des Deutschlehrers denken.
Zunächst aber mussten sie sich auf dem Hockeyfeld der feinen Schule bewähren. Die Gegner spielten in ihrem Schulanzug und wieder barfuß. Das sollte die Überlegenheit schon von vorneherein ankündigen. Er musste an diesem Tag auf dem linken Flügel spielen. Das wurde eine Art Folter, denn er stand den Schülern am nächsten, die lachend zusahen, wie die eigene Mannschaft sie ausspielte, wie sie wollte. Das Ergebnis war, dass sie eins zu fünf verloren. Nach der Halbzeit sah er einen hochgewachsenen Zuschauer im blauen Jackett und grauer Hose, der die Gegenseite anfeuerte. Es war der Ehemann der englischen Kronprinzessin, Prinz Philip, der einmal Schüler am Bodensee gewesen war. Irgendwie wurde die Blamage dadurch noch größer. Denn für jemanden, der den Sport hochhielt, war eine solche Niederlage doch etwas ziemlich Jämmerliches. Daran gab es nichts zu deuteln. Sein Ehrgeiz war noch immer so stark, dass er sich das eingestehen musste.
Der Eindruck des Films beschäftigte ihn am nächsten Tag noch immer, er wollte ihm gar nicht mehr aus dem Kopf gehen. In der Woche darauf erklärte er dem Sportlehrer, er werde nicht mehr in der Schulmannschaft Hockey spielen. Einen Grund dafür gab er nicht an. Er sagte also nicht, die Mannschaft sei sowieso so schlecht, dass es keinen Spaß mache, in ihr zu spielen. Das hätte er sich gar nicht herausnehmen können, denn er spielte nicht besser als der Durchschnitt, ganz im Gegenteil, andere waren wirkliche Könner, zum Beispiel sein Klassenkamerad Mopsi, der mit dem Schläger wie ein Künstler umging. Es blieb bei einer einfachen Mitteilung, und der stille, sehr sympathische Sportlehrer nahm sie ohne lange Gegenrede an.
Etwa zum gleichen Zeitpunkt entdeckte er, dass es im Kino in der Universitätsstadt einen Film gab, den derselbe Regisseur gedreht hatte, Jean Cocteau. Er hatte sich den Namen in ein Schulheft geschrieben, und inzwischen war er ihm vertraut. Die älteren Schüler hatten die Erlaubnis, einmal im Monat in die Universitätsstadt hinunterzufahren und auch ins Kino zu gehen. Er fuhr mit Adrian. Der neue Film von Cocteau hieß Orphée . Er war schon im Herbst 1951 zu sehen, weil den Behörden der französischen Zone viel daran lag, die neue Kultur der Pariser Nachkriegszeit auch jenseits des Rheins bekannt zu machen. Diesmal war sein Eindruck noch viel größer. Die Handlung, in französischer Sprache, blieb zwar mysteriös. Es war die Neuerzählung des Orpheusmythos. Das Neue war, dass Orpheus nicht nur in die Unterwelt kommt, sondern seinen eigenen Tod in Gestalt einer Frau trifft, die er liebt. Die Liebe zwischen Orpheus und seinem Tod war die eigentliche Geschichte, die Cocteau erzählte. Gleichzeitig aber zeigte er, was den Zuschauer verwirrte, ein Happyend zwischen Orpheus und Eurydike als normales Ehepaar.
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