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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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lasen eine kurze Charakteristik der Absicht des Regisseurs, aber die war unwichtig gegenüber dem, was er und Adrian zu sehen bekamen. Die Tatsache, dass es sich um einen griechischen Mythos handelte, erfüllte ihn allein schon mit einer ganz besonderen Genugtuung: Die Gegenwart war also mythisch. Die Kaffeehausliteraten im Film waren Bacchanten des Dionysos, andererseits völlig normale Typen ihres Milieus. Was über sie gesagt wurde, klang völlig modern. Sie schrieben sogenannte avantgardistische Literatur, die der Regisseur wohl nicht mochte, und standen in einem polemischen Gegensatz zu Orpheus. Dieser glaubte, dass sie ihn hassten. Warum? Das war die erste spannende Frage, die nicht beantwortet wurde. Orpheus behauptete, dass ihn die übrige Öffentlichkeit liebe. Jedenfalls war die zeitgenössische französische Literaturszene in eine mythische Szenerie übersetzt. Das war sein erster Eindruck. Ohne dass er sich die Geschichte in ihren einzelnen Bildern ins Mythische übersetzen konnte, obwohl alle Szenen, die dem Mythos folgten, identifizierbar waren, war das Wichtigste doch der Weg in die Unterwelt. Das war von einer so düsteren Schönheit, dass er davon mehr hatte als von der modernen Mythologie. Wunderbar die Fahrt im schwarzen Wagen, in dem Nachrichten wie poetische Verlautbarungen aus dem Autoradio kamen. Dann das Durchgleiten des Spiegels, das Vorbeitasten von Orpheus und Heurtebise an dem Gemäuer alter, zerfallener Herrenhäuser. Ein unauslöschlicher Eindruck.
    Gab es einen besseren Ausdruck für den Weg in die Unterwelt? Oder für den Tod? Nur in diesen Szenen bekam die Figur des Orpheus eine tragische Bedeutung. Sonst war sie merkwürdigerweise gewöhnlich. Das hing auch mit der irgendwie quäkenden Stimme des Orpheusschauspielers zusammen. Viel tiefer wirkten auf ihn die melancholischen Gesichter der Figuren des Heurtebise und der Prinzessin Tod. Vor allem Heurtebise, ihr Chauffeur, bekam am Ende, als er wusste, dass es keinen Weg zurück ins Leben und zu seiner Liebe zu Eurydike gab, einen Ausdruck von unendlichem Schmerz, der ihn sehr bewegte. Von besonderer Aktualität fand er die kalte Gerichtsszene und Verhöre in der anderen Welt. Das erinnerte ihn an das abgrundtiefe Böse der Verhöre in Sonnenfinsternis . Auch wie die Prinzessin und ihr Chauffeur abgeführt wurden. Es war überwältigend.
    Als sie draußen waren, guckten Adrian und er sich an. Das taten sie manchmal, wenn es etwas zu besprechen gab, das nicht einfach war. Es war eine Art Erkennungszeichen für Pro oder Contra. Sie hatten das zufällig vor Jahren während einer französischen Unterrichtsstunde beim Blick auf die Titelseite ihrer zu lesenden Erzählung erfunden. Diese Erzählung hieß Peau de Carotte und zeigte das Gesicht eines rothaarigen, etwa vierzehnjährigen Jungen mit einer sommersprossigen Haut und einem traurigen Blick. Sie empfanden gleichzeitig dasselbe und merkten es, sagten aber nichts weiter dazu. Sie waren sich nun einig, dass der Schauspieler, der den Orpheus gespielt hatte, ihnen sowieso nicht besonders gefiel. Sein Name, Jean Marais, war in aller Munde, auch auf der Schule. Er hatte auch das unglückliche Löwenhaupt, das sich in einen schönen Prinzen verwandelt, gespielt. Aber was wollte der Film?
    Adrian, der sich von Filmbildern, gerade wenn sie das Geheimnisvolle ausdrückten, nicht so leicht beeindrucken ließ, sagte eigentlich nichts. Alles war für ihn unklar geblieben. Der Junge dagegen fing zum ersten Mal an, nach den richtigen Worten für die Fotografie des Films zu suchen. Die großen schwarzweißen Unterweltszenen waren ja wohl irgendwie symbolisch. Sie standen im Gegensatz zu den ganz realistischen Szenen im Café oder im Polizeirevier oder im Haus, in dem Orpheus und Eurydike wohnten. Symbolisch klang ihm aber nicht genau genug. Das sagte ja jeder, wenn er nicht genau wusste, was irgendetwas bedeutete. Dann fiel ihnen ein, dass der Griechischlehrer kürzlich einmal anlässlich eines Gedichts das Wort »symbolistisch« gebraucht hatte. Adrian sagte schließlich, wenn der Film nicht symbolisch sei, dann sei er vielleicht symbolistisch. Sie kamen überein, dass es ihnen nicht gefiel, dass Eurydikes Tod und anschließend auch der von Orpheus wieder rückgängig gemacht wurden und stattdessen eine rätselhafte Bestrafung der Todesprinzessin und ihres Getreuen zu sehen war. Das hieß, so Adrian, anstelle eines modernen Mythos einen mythologischen Symbolismus zu setzen. Um was für eine Poesie es

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