Granatsplitter
sich eigentlich handelte, die Orpheus aus dem Autoradio hörte. War die auch symbolistisch? Orpheus war ja ganz besessen davon. In der Szene im Café der Literaten hatte es eine Diskussion gegeben über die richtige Literatur der Zeit. Offensichtlich machte sich Cocteau lustig über bestimmte Neuerungen der avantgardistischen Literatur überhaupt. Das Wort »Avantgarde« war ihm und Adrian, obwohl sie es schon häufiger gehört hatten, eigentlich ein Fremdwort. Sie benutzten das Wort »moderne Kunst«. Adrian begann schon zu diesem Zeitpunkt, sich für moderne Malerei zu interessieren, und kaufte sich vor allem, wenn er mit seinem Vater nach Paris fuhr, Kopien von Bildern moderner Maler. In der Schule waren die deutschen Expressionisten in große Mode gekommen. In jedem zweiten Zimmer der Oberstufe hingen Plakate und Postkarten, vor allem von Franz Marc. Seine gelben Pferde oder der Tiger. Adrian aber brachte ganz andere Zeichnungen und Bilder mit, von Picasso und George Braque. Der Junge hatte die geometrischen Bilder von Klee gerne. Das war moderne Kunst für ihn. Was Cocteau gegen die Avantgardisten hatte, hätten Adrian und er nicht genau sagen können. Auf jeden Fall hing es wohl mit den symbolistischen Filmszenen zusammen. Das war ihnen klar, nachdem sie sich geeinigt hatten, dass Cocteau einen symbolistischen Stil hätte.
Aber eigentlich war die künstlerische Frage nicht die wichtigste. Dafür hielt er sich für noch nicht wissend genug. Es war vielmehr sein Gefühl, sein Wunsch, in einer Zeit zu leben, die etwas Mythisches hatte, so wie aus den Bildern von Picasso etwas Mythisches sprach. Das war ihm, seit er die Schule und ihre Landschaft wie ein neues Griechenland erblickt hatte, als ein entscheidender Impuls des Lebens geblieben. Das Programm des Kunstkinos der Universitätsstadt kündigte zwei weitere französische Filme an, diesmal von einem anderen Regisseur, Marcel Carné. Der Titel des ersten Films zog ihn sofort an: Les Visiteurs du Soir , der zweite Film namens Les Enfants du Paradis musste nach Auskunft des Programms ungeheuer berühmt sein. Beide sah er sich mit Adrian an. Der Film über die geheimnisvollen abendlichen Besucher hatte wie La Belle et la Bête eine längst vergangene Zeit zum Schauplatz, nämlich das Mittelalter. Wiederum war es die fremde Atmosphäre, die ihn fesselte. Es gab keine deutschen Untertitel, und sein Französisch reichte bei weitem nicht aus. Deshalb verstand er nur wenig von der seltsamen, ihm mystisch vorkommenden Handlung, abgesehen davon, dass ihm Adrian einiges erklärte. Im Mittelpunkt drei Personen: Gilles, ein Sänger mit einem stets harten, melancholischen Ausdruck, der zum ewigen Leben verdammt war, weil er keine Liebe gefunden hatte, seine ebenso ernste Begleiterin, Dominique, ebenfalls ein Liebesschicksal ankündigend, und schließlich der Teufel in Gestalt eines eleganten, geistreich-bösartigen Höflings, der die Idee der Ewigkeit der Liebe zerstören will. Das Ganze spielt während eines Verlobungsfestes an einem südfranzösischen Adelshof. Eine alte Legende, die eine unmittelbare Wahrheit enthalten sollte. Alles bedeutete etwas mehr, als was zu sehen war. Er verstand das erst, nachdem er sich nach dem Film Klarheit verschafft hatte über den Sinn einiger entscheidender Szenen. Es war vor allem anderen eine Liebesgeschichte oder besser eine Liebespoesie, die ihn deshalb anrührte, weil er selbst auch solch höheren Phantasien nachhing. Abgesehen davon, dass der Film ihn in seinen eigenen, von jeder Erfahrung unberührten Träumereien bestärkte, zog ihn wieder das Irreale, das über der Realität Stehende an. Das war sein Thema.
Les Enfants du Paradis war tatsächlich überwältigend. Die Pariser Epoche vor hundert Jahren und ihre so gegensätzlichen Gestalten. Am meisten machte ihn die Tatsache glücklich, dass Theater und Schauspieler eine Hauptrolle spielten. Die romantische Figur des theatralischen Schauspielers Frédéric le Maître hatte es ihm fast mehr angetan als der traurige Mime Baptiste, obwohl der vom größten Schauspieler des gegenwärtigen klassischen französischen Theaters, Jean-Louis Barrault, gespielt wurde. Und dann dessen unglückliche, alleingelassene Frau Nathalie, gespielt von der gleichen Schauspielerin, die in Orphée die Prinzessin des Todes gespielt hatte: Maria Césares. Diesmal aber wurde sie von der außerordentlich sinnlichen Erscheinung der Schauspielerin Arletty in der Rolle der Garance überstrahlt, deren Namen er
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