Granatsplitter
zum ersten Mal hörte. Alles war Sinnlichkeit, alles war in großer Bewegung, alles war Theater. Auch die Politik, das Zeitalter der zweiten Revolution in Frankreich. Es war genau in diesem Monat, dass er Büchners Dantons Tod in einer Inszenierung von Studenten der Universitätsstadt sehen konnte und sich völlig unvorbereitet noch einmal eine Idee von der Revolution in ihm festsetzte, die unendlich grandios war und sich ganz von dem unterschied, was er im Zusammenhang der russischen Oktoberrevolution gedacht hatte. Die Reden vor allem! Die Dialoge waren in ihren gebildeten Anspielungen noch immer zu spitzfindig, als dass er sie in ihrer Mehrheit ganz begriffen hätte. Aber eines wurde deutlich, und das war wie eine besondere Entdeckung: Sie spielten ständig auf griechische und römische Gestalten und Vorgänge an. Natürlich völlig anders als in Orphée . Der Mythos wurde nicht schön widergespiegelt, sondern in einer lang hingezogenen Diskussion mit vielen scharfen Spitzen zersetzt. Aber trotzdem war er absolut verzaubert von den intensiven Farben der Revolution. Diese mischte sich jetzt hinein als triumphierende, taumelnde Massen am Ende von Les Enfants du Paradis . Und noch etwas faszinierte ihn, nämlich die immer wieder gefährlichen Situationen. Vor allem der elegant-düstere Verbrecher Lacenaire. Er las nach, wie ungemein berühmt der damals gewesen war. Dass und wie er den Grafen im türkischen Bad umbringt, mit dem er schon vorher auf der Treppe des Theaters eine bedrohlich klingende Unterhaltung hatte, das wirkte wirklich wie ein Zeichen der ewigen Revolution. Der Verbrecher und sein Kumpan waren, wie ihre Reden, von unglaublicher Kühnheit.
Noch etwas kam ihm bei den drei französischen Filmen zu Bewusstsein. Sie unterschieden sich vollständig von den Filmen, die er in den Ferien in der Heimatstadt sah, egal, ob es ein Seeräuberfilm mit Errol Flynn war oder ein Kriminalfilm mit James Mason oder ein Wildwestfilm mit John Wayne. Er war ja seit dem Kriegsende, als er zwölfjährig im Millowitsch-Kino in der Aachener Straße als seinen ersten Film Der große Bluff mit Marlene Dietrich gesehen hatte, in den Ferien eine Art ständiger Filmgänger geworden. So neu waren die französischen Filme nicht. Die von Carné waren schon zehn Jahre alt, Cocteaus La Belle et la Bête immerhin sechs Jahre, nur Orphée war erst im letzten Jahr in Paris angelaufen. Aber sie wirkten alle zusammen wie eine neue Erfindung, eine große neue Erfindung. Mehr als das. Ihre Bilder senkten sich so ein in sein alltägliches Gefühl, dass er selbst die Wirklichkeit nach ihrem Impuls zu sehen begann. Er wollte sie so sehen. Wirklichkeit musste mehr sein als ihre Alltäglichkeit. Vor allem die Liebe. Seitdem er diese Filme gesehen hatte, wurden Frankreich und Paris ein Magnet. Was dort vor sich ging, was ihn jetzt besonders anzog, war die Liebe und die Revolution und die Mythologie.
War es Zufall oder hing es mit diesen Filmen zusammen, dass die Erwähnung des französischen Lyrikers Charles Baudelaire an einem der Abende mit dem Griechischlehrer bei ihm haften blieb? Der Griechischlehrer sprach lange über ein besonderes Gedicht Baudelaires und betonte, es gäbe bei diesem Dichter zwei zentrale Worte, die das deutsche Wort für »Abgrund« ausdrückten: »gouffre« und »abîme«. Was Baudelaires Abgrund genau sei, sagte er nicht. Es war ja immer die Art und Weise dieses Lehrers gewesen, manchmal etwas über ihre Köpfe hinweg zu sprechen. Er nannte das: strategische Überforderung. Indem er ihnen geistig mehr zumutete, als sie von Kenntnis und Alter her schon beherrschten, würden sie auf Neues stoßen. So ähnlich hatte er schon im Vorjahr den englischen Lyriker John Donne erwähnt, den sie nicht nur wegen ihres nichtvorhandenen Englisch nicht verstehen würden. Das sagte der Griechischlehrer selber. Jedenfalls hatte es bei ihm die Folge, dass er sich eine zweisprachige Baudelaire-Ausgabe besorgte. Je länger er darin herumlas, desto mehr gefielen ihm einige Gedichte, in denen sich eine Stimmung der Ruhe und einer gefassten Trauer ausbreitete. Manchmal war es nur eine Strophe. Das Gedicht Recueillement/Sammlung war so ein Gedicht. Die ersten Worte, »sois sage o ma douleur«, hatte der Griechischlehrer auch einmal zitiert. Wenn es dann hieß: »mein Schmerz, gib mir die Hand« – im Französischen noch schöner »ma douleur, donne moi la main«–, dann hatte er nur eine ungefähre Ahnung, was Baudelaire eigentlich sagen
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