Granatsplitter
sich der Deutschlehrer als Zuschauer auf den Rasen setzte. Das war kurz vor Ende des Spiels. Er wusste, dass der Lehrer sich wie die meisten anderen nicht für den Schulsport interessierte. Das war eigentlich verwunderlich, denn er war ja Berufsoffizier gewesen und hätte von daher Sympathie für körperliche Auseinandersetzungen haben können, bei denen auch Mut und Willenskraft eine gewisse Rolle spielten. Nicht so bei ihm. Er war nur gekommen, um ihm eine gute Nachricht zu bringen: Sein Aufsatz sei ausgezeichnet, es sei der beste. Aber er fügte etwas hinzu, das ihn beunruhigte und auch tief verletzte: Wie es denn käme, dass ein so begabter Schüler mit rotem Gesicht auf dem Platz herumlaufe und unbedingt ein Tor schießen wolle? Das passe überhaupt nicht zu seiner geistigen Ausrichtung. Das sei ein Widerspruch. Er solle darüber einmal nachdenken. Wolle er überhaupt Hockey spielen? Eine ganz unglaubliche Frage.
Die Frage löste bei ihm keine Empörung aus, obwohl etwas davon in ihm aufstieg. Es war im Gegenteil vielmehr eine Beschämung. Er fühlte sich in Frage gestellt, denn ihm lag ja alles an der geistigen Anerkennung. Der Sport hatte, das wusste er schon lange, in der Schule keine wirkliche Bedeutung, ganz im Unterschied zu dem feinen Nachbarinternat am Bodensee. Das wäre früher anders gewesen, hatte ihm der stille Sportlehrer einmal gesagt. Aber das hatte sich nach dem Kriegsende mit dem neuen Schuldirektor völlig geändert. Sport war etwas für die Doofen. Tatsächlich gab es in der Hockeymannschaft keinen einzigen der Schüler, die ihm wichtig waren. Weder Adrian noch Rüdiger noch Konrad noch James, keiner der Jungen, die eine Rolle in der Schule spielten, war ein guter Sportler. Nur er. Er war inzwischen sogar in der Hockeyschulmannschaft. Bisher hatte ihm die mangelnde Anerkennung des Sports nichts ausgemacht. Er liebte Hockey, Mannschaftsspiele. Ja, er wollte Tore schießen. Er hatte auch den körperlichen Zusammenprall gerne. Und immerhin schauten die Mädchen manchmal zu. Nicht Feo, aber doch einige andere. Bei denen jedenfalls konnte er Eindruck machen. Dieser Wunsch hatte bei einem Leichtathletikwettbewerb gegen eine Klosterschule, die auch in der Nähe lag, zu einer Verletzung geführt, auf die er sogar stolz war. Im Hundert- und Zweihundertmeterlauf hatte er anzutreten. Der Anblick einiger der gleichaltrigen Schülerinnen seines Internats, die mitgefahren waren, brachte ihn so in Stimmung, dass er beim Auslaufen nach der Zielgeraden den daran angrenzenden Schotterboden nicht beachtete. Beim Sturz knickte der rechte Fuß um, und er musste mit Schmerzen weggetragen werden. Es wurde ein schwerer Bluterguss, der ihn vier Wochen plagte. Aber die besorgten Blicke der Schulkameradinnen waren ihm wichtiger als der Ärger über den Zustand der Bahn, an deren Ende man Kohlenstücke gestreut hatte.
Die Worte des Lehrers beschäftigten ihn tagelang. Er vermied es, danach überhaupt noch einmal mit ihm zu sprechen. Ja, er hatte das Wort »naiv« gebraucht. Naiv hieß ja nichts anderes als ein gewisser Mangel an Bewusstheit. Adrian und Konrad, die waren bewusst, das Gegenteil von naiv. Auch Rüdiger. Er war wohl anders. War er naiv? Fehlte ihm doch das Zeug, genaue Analysen zu schreiben? Das tat Adrian zwar nicht. Aber doch eher deshalb nicht, weil er sich nicht anstrengte. Konrad und Rüdiger schrieben aber ausgezeichnete Analysen. Der Deutschlehrer mit den langen Haaren hatte beide ganz öffentlich dafür gerühmt. Es brach eine Zeit der Unsicherheit an. Der Lehrer, der seinen Aufsatz mit dem Prädikat »Auszeichnung« versehen hatte, war jedenfalls erstaunt, ihn als ehrgeizigen Sportler zu sehen. War der Aufsatz ein Zufall? Wer wirklich geistig begabt war, hat der keinen sportlichen Ehrgeiz? War er also nicht wirklich begabt? Es ging ihm nicht aus dem Kopf. Kurz nach dem Zwischenfall am Spielplatzrand wurde die Hockeymannschaft der Schule eingeladen, an den Bodensee zu fahren, um gegen die Mannschaft des dortigen Internats zu spielen, die in der ganzen Provinz berühmt für ihr Spiel war. Es galt, seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen.
Auf der Busfahrt dorthin übernachteten sie in einer kleinen Stadt. Am Abend ging die ganze Mannschaft ins Kino. Der Film hatte einen französischen Titel, den sie zwar verstanden, aber mit dem sie nicht viel anfangen konnten: La Belle et la Bête . Auf den Namen des Regisseurs achteten sie nicht, er hätte ihnen auch nichts gesagt. Sie gingen überhaupt nur
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