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Grandios gescheitert

Grandios gescheitert

Titel: Grandios gescheitert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ingmar Gutberlet
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Jahrhunderts bei allen ideologischen Unterschieden gemeinsam, dass der Glaube an Fortschritt und technische Machbarkeit einstweilen unerschütterlich blieb. Allerdings geriet der Westen früher in eine Glaubenskrise als der Ostblock: Für diesen war die Technik unverzichtbarer Teil seiner Identität geworden, weshalb sie auch nie ausschließlich aus technologischen oder wirtschaftlichen Motiven zur Anwendung kam.
    Die Motivation des riesigen, weltweit ersten sozialistischen Staates, sogenannte Megaprojekte in Angriff zu nehmen, hatte gute Gründe: Zum einen bedurfte das rückständige Sowjetrussland nach der Oktoberrevolution 1917 in der Tat enormer Anstrengungen, um den jungen Staat in die Moderne zu befördern, sodass man Projekte großen Maßstabs für die Industrialisierung und für Infrastrukturmaßnahmen mit einiger Berechtigung als unerlässlich betrachtete. Zum anderen mussten die Bolschewiki unter Beweis stellen, dass ihr System so zukunftsweisend und dynamisch war, wie sie beanspruchten. Und schließlich wuchs sich im Kalten Krieg die »natürliche Konkurrenz« zu den kapitalistischen Ländern des Westens zu einem erbitterten Systemwettstreit aus, den sich Moskau einiges kosten ließ. Die Planseligkeit der sozialistischen Staaten musste solche Anstrengungen zusätzlich befördern, weil hier das Potenzial staatlicher Lenkung besonders gut vorexerziert werden konnte. Das Schwelgen im großen Wurf wurde aber auch dadurch begünstigt, dass sowjetische Entscheidungsträger nicht auf die Zustimmung des Wahlvolkes angewiesen waren und sich nicht mit den endlosen Eingaben uneinsichtiger Interessengruppen herumschlagen mussten.
    Auf längere Zeit sollte sich das Verhältnis zur Natur, jedenfalls nach dem Willen der staatlichen Organe, also geradezu umkehren – verglichen mit der überaus großen Wertschätzung der Natur, wie sie in Russland Tradition war. Unzählige Stimmen erklärten die Natur für hoffnungslos rückständig und stellten sie zur Disposition, um sodann das Potenzial der Technik für die sozialistische Gesellschaft zu verklären und sie zur eigentlichen Hochkultur zu erheben. Wissenschaft und Technologie erschienen als Schlüssel zum Weg in die sozialistische Zukunft, und egal worin der wirkliche Grund für die schlechten Produktivitätsraten der meisten Branchen jeweils lag – das Allheilmittel dagegen hieß immer: Technik.
    Technik diente auch als Metapher für den Sozialismus, der in seiner Unfehlbarkeit so geschmeidig arbeitete wie eine gut geölte Maschine, beide in ihrer Funktionsweise absolut rational. Dafür hatte Staatsgründer Lenin selbst den Weg geebnet: Seine Aussage, Sozialismus sei Sowjetmacht plus Elektrifizierung des gesamten Landes, ließ sich weiter fassen als das Ziel technologischer Modernisierung großen Maßstabs – sie ließ sich auf die gesamte Geschichte der Sowjetunion beziehen. Obwohl bolschewistischer Revolutionär, sprach Leo Trotzki, nach Lenin zweiter Mann der jungen Sowjetrepublik, durchaus bibelfest vom Besitzergreifen der Natur durch den Menschen und von der Notwendigkeit, die Natur zu »korrigieren«. Der sozialistische Mensch werde weisen, »wo Berge stehen und wo sie weichen sollen, wird die Richtung der Flüsse ändern und die Meere meistern«. Nikolai Bucharin, marxistischer Philosoph und Politbüro-Mitglied, wiederum betonte, mittels modernster Technik müsse sich der Mensch vom Joch der Natur befreien und ihre Schätze dem Menschen dienstbar machen. Für Stalins Gefolgsmann Molotow gehörten Technik und Kommunismus unverbrüchlich zueinander, während der Historiker und Bildungsfunktionär Michail Pokrowski vom weichen Wachs der Natur in den Händen des Menschen schrieb. Der Politiker und Revolutionär der ersten Stunde Michail Kalinin, nach dem die vormals ostpreußische Hauptstadt Königsberg 1946 ihren neuen Namen erhielt, sah die Sache einfach: Ebenso wenig, wie sich kein Bauer ohne Land emanzipieren konnte, sei die Freiheit des Menschen möglich ohne die Herrschaft über die Natur. Andere setzten gar den Sozialismus gleich mit einem Kampf der Menschheit gegen die Natur, um diese der Vernunft zu unterwerfen. Da kam es nicht von ungefähr, dass der deutsche Philosoph und Schriftsteller Walter Benjamin 1926 von seiner Reise in die Sowjetunion berichten konnte, nichts nehme man dort wichtiger als die Technik. Und das sollte für den größeren Teil der sowjetischen Geschichte auch so bleiben. Erweitert um Stalins berühmtes Diktum, wonach das alles

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