Grandios gescheitert
jetzt folgten den staatlichen Lippenbekenntnissen keine handfesten Taten, und die Dresdner »Arbeitsstelle für Molekularelektronik« trat auf der Stelle. Stattdessen wurden preiswertere Alternativentwicklungen angestrebt, die die DDR ins mikroelektronische Abseits führten. Dieser Rückstand konnte auch in den Achtzigerjahren nicht mehr aufgeholt werden.
So misslang in der DDR die Anwendung der Kybernetik, noch bevor sie ihre Tauglichkeit wirklich hätte unter Beweis stellen können. Zum einen ist dafür der Machtanspruch der SED-Oberen verantwortlich, die die marxistische Ökonomie als unfehlbar ansahen und letztlich nicht gewillt waren, die Entscheidungshoheit an eine Wissenschaft abzugeben, die damit ja übergeordnet gewesen wäre. Zum anderen geriet die Kybernetik dadurch ins Straucheln, dass in der DDR weder genügend Computer verfügbar waren, noch die vorhandenen über die notwendigen Leistungskapazitäten verfügten. Letztlich biss sich die Katze in den Schwanz: Die notwendige Hardware für die kybernetische Revolution war nicht verfügbar, weil das Wirtschaftssystem, solange es nicht kybernetisch revolutioniert war, nicht die notwendige Leistungskraft besaß. Die sozialistische Kybernetik scheiterte gewissermaßen an Basis und Überbau zugleich.
Den Todesstoß erhielt die Kybernetik durch den Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker 1971, der nun wieder ganz anders redete als sein Vorgänger und sogar auf alte Schablonen aus den Fünfzigerjahren zurückgriff: »Es ist nun endlich erwiesen, dass Kybernetik und Systemforschung Pseudowissenschaften sind.«
Chile: Spielwiese der Kybernetiker
Im fernen Chile dagegen, in dem Erich Honecker nach dem Ende des Sozialismus auf deutschem Boden Exil finden würde, war man zu dieser Zeit entgegengesetzter Meinung. Und dort sollten die Vorbereitungen zur Umsetzung der kybernetischen Vision einer umfassenden, um nicht zu sagen totalen ökonomischen Steuerung weiter vorankommen, als es jemals anderswo der Fall war. In Chile hatte 1970, zum ersten Mal überhaupt, ein Sozialist auf demokratischem Weg die Mehrheit für einen Systemwechsel errungen – wenn auch mit knapper Mehrheit und in einer schwierigen Koalition. Im Unterschied zu den Staaten des Warschauer Paktes sollte auch der Aufbau des chilenischen Sozialismus auf demokratischem Weg bewerkstelligt werden.
Wahlsieger Salvador Allende sah sich nun aber den Mühen der Ebene ausgesetzt, nicht zuletzt was die Wirtschaft und ihre Umwandlung in ein sozialistisches System betraf. Denn die Transformation zu einer Planwirtschaft mittels Agrarreform, Verstaatlichungen und marxistischen Grundsätzen gestaltete sich überaus schwierig, gleichwohl legte Allende dabei ein beachtliches Tempo an den Tag. Aber je größer der staatliche Sektor der Wirtschaft wurde, desto schwieriger war er auch zu managen. Rettung versprach Stafford Beer, die schillernde Symbolfigur der Wirtschaftskybernetik. Beer kam auf Einladung der chilenischen Regierung Ende 1971 nach Santiago und traf alsbald Staatschef Allende zu einem Gespräch über das ehrgeizige Vorhaben. Der erteilte dem Projekt umgehend seinen Segen, und Stafford Beer machte sich mit Feuereifer an die Arbeit.
Beer wollte mit einem Netzwerk aus Fernschreibern und einem Zentralcomputer, das wie ein Nervensystem mit den Synapsen der chilenischen Wirtschaft in Verbindung stehen sollte, alle Zahlen und Daten sammeln. Kybernetisch gesehen stellte die chilenische Volkswirtschaft, wie alle anderen, ein netzartiges Großsystem dar, welches sich aus vielen größeren und kleineren Subsystemen zusammensetzte, die wiederum direkt oder indirekt miteinander in Verbindung standen. In ihrer Gesamtheit und mit allen Interdependenzen war dieses Netz so komplex, dass seine Daten in ihrer Fülle nicht mehr mit herkömmlichen Mitteln erfassbar waren, ganz abgesehen vom schädlichen Zeitverlust, der mit einer langwierigen Auswertung verbunden war.
Beers Plan sah vor, die notwendigen Daten mit moderner Computertechnologie jederzeit verlässlich zur Verfügung zu stellen, um auf dieser Basis die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Daher sollten die Daten gefiltert, gebündelt und aufbereitet den Entscheidungsträgern bequem auf den Bildschirm geliefert werden. Eigens dafür wurde in Santiago eine Schaltzentrale des Cybersyn genannten Projekts gebaut, deren elektronisches Herz ein Zentralcomputer, deren ideelles Herz aber der Operations Room oder Opsroom war. Er wirkte nüchtern und faszinierend
Weitere Kostenlose Bücher