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Grandios gescheitert

Grandios gescheitert

Titel: Grandios gescheitert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ingmar Gutberlet
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Entscheidende die Technik sei, behielt Lenins industriebezogenes Fortschrittsideal seine Gültigkeit.
    Damit aber war in einfacher Freund-Feind-Logik die Natur zum Gegner geworden. Folglich ging es um nichts weniger als einen Krieg gegen die Natur, die mit Hilfe der Technik unterworfen werden sollte. In diesem Feldzug fanden sich die jungen Ingenieure wieder, die seit Anfang der Dreißigerjahre Stalins Auftrag erfüllen sollten, einen technologischen Rückstand von 50 bis 100 Jahren gegenüber dem Westen in zuerst zehn, dann gar nur vier Jahren aufzuholen. Militärische Vergleiche stilisierten die Aufholjagd als Kampf um Leben und Tod, weil der lauernde Kapitalismus die junge Sowjetunion bedrohe – aber vor allem, um im permanenten Ausnahmezustand Höchstleistungen einfordern zu können. Dem »weisen Führer« Stalin sekundierend, feierten Schriftsteller die sozialistischen Heroen der Großbaustellen, beispielsweise Fjodor Gladkow, der in seinem zweiten Roman Energie in den Dreißigerjahren seinen Helden kurz und bündig erklären lässt: »Eine Baustelle bedeutet schließlich Krieg.«
    Hand in Hand mit Wissenschaftlern, Ingenieuren und Politikern richteten die Künstler der Sowjetunion ihr Interesse auf die Transformation der Natur. Während die besiegte Schöpfung abstieg zum bloßen Überbleibsel einer vorsozialistischen Unzeit, beseelten Literatur und Film alles Technische und erhoben es zur kulturellen Errungenschaft. Dieser Umbau der Natur wurde von Künstlern aller Disziplinen im Stil des »sozialistischen Realismus« gepriesen, wofür sich Stalin mit dem Lob revanchierte, die Literaten seien »Ingenieure der Seele«. Zum qualmenden Schornstein als gern verwendetes Symbol sozialistischer Produktivkraft trat der Bulldozer, der als stählerne Verkörperung der Macht des Plans die chaotische Natur bändigt; in Folge der propagierten Maschinenliebe avancierte gar »Traktor« zum beliebten Vornamen. Als bekanntester Vertreter des sowjetischen »sozialistischen Realismus« schrieb Maxim Gorki: »Indem wir die Natur verändern, verändern wir uns selbst.«
    Für Gorki lag auf der Hand, dass »unvernünftige Flüsse vernünftig« gemacht werden mussten. Selbst im Abschmelzen der Polkappen zugunsten günstigerer klimatischer Bedingungen sah er kein Problem. Gemeinsam mit den Kunstschaffenden hielten die Sowjetideologen Vergleichbares nur im ersten sozialistischen Staat der Welt für machbar, kein kapitalistisches Land verfügte über die notwendigen Bedingungen. Diese Vorstellung war nicht gänzlich falsch, denn die sozialistischen Besitzverhältnisse erleichterten den Zugriff auf riesige Landflächen und die zentralisierte Planung ermöglichte es, enorme Anstrengungen zuungunsten vieler anderer auf ein einziges Megaprojekt zu konzentrieren. Josef Stalin, seit 1927 faktisch Alleinherrscher des Riesenreiches, gedachte denn auch, das Potenzial voll auszuschöpfen, und entwickelte eine Manie für Riesenprojekte, mit denen er den Westen ausstechen wollte. Ebenso sehr sollten die gewaltigen Vorhaben aber nach innen ausstrahlen und der sowjetischen Bevölkerung die Errungenschaften des Systems vor Augen führen. Während es Lenin vorrangig um die Elektrifizierung gegangen war, legte sein Nachfolger größten Wert auf Kanalbauten und Wasserkraft. Entsprechend waren es die großen Wasserbauprojekte, die aufwendig inszeniert und propagandistisch ausgeschlachtet wurden.
    Doch bereits das erste der Stalin’schen Mammutprojekte, die Moskauer Metro, sollte ausdrücklich mehr sein als nur eine technische Meisterleistung: Sie war »das Symbol der neuen Gesellschaft, die errichtet wird«, wie Politbüro-Mitglied Kaganowitsch äußerte. »In jedem Stück Marmor, in jedem Stück Beton oder Stahl, in jeder Stufe der Rolltreppen steckt der Geist des Neuen Menschen, unsere sozialistische Arbeitskraft, darin steckt unser Blut, unsere Liebe, unser Kampf für den Neuen Menschen, für eine sozialistische Gesellschaft.«
    Die Liste der sowjetischen Großprojekte ist lang. Als bekannteste neben vielen anderen gehören dazu die Gründung der Stahlstadt Magnitogorsk am südlichen Ural, der Belomor-Kanal zwischen Ostsee und Weißem Meer, die fast 4.000 Kilometer lange Baikal-Amur-Magistrale (BAM), eine Eisenbahnstrecke von Sibirien in den Fernosten Russlands, oder die Dnjeprostroj-Talsperre im Süden der Ukraine mit dem seinerzeit größten Wasserkraftwerk der Welt. Die meisten Projekte vor und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden unter größten

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