Grandios gescheitert
Entbehrungen von Zwangsarbeitern der Lager des GULag-Systems gestemmt: Zuzeiten waren 2,5 Millionen Menschen in den berüchtigten Lagern untergebracht, und der Blutzoll, den sie entrichteten, war beträchtlich. Für die Zeit von 1933 bis 1944 und für die gesamte Sowjetunion geht man von insgesamt zwölf bis fünfzehn Millionen Lagerinsassen aus, von denen jeder fünfte umkam. Sibirien, in dem sich einige der größten Lagerkomplexe befanden, kam in den Ruf, das größte Gefängnis der Welt zu sein.
Unter Stalin begannen mit dem ersten Fünfjahresplan 1928 Planungen für Staudämme, Kanäle und Wasserkraftwerke sowie der Neu- und Ausbau von Eisenbahnstrecken. Das erste Großprojekt aber war Magnitogorsk im Südural, bis heute von herausragender Bedeutung für die russische Stahlproduktion, das in wenigen Jahren aus dem Nichts entstand. Weitere Städte und weitere Industrie-Neuansiedlungen folgten, darunter Norilsk in der unwirtlichen Permafrost-Region nördlich des Polarkreises, um den dortigen Rohstoffreichtum auszubeuten. Das nordsibirische Norilsk ist noch heute die nördlichste Großstadt der Welt – und eine der am stärksten von Umweltbelastungen betroffenen überhaupt. Aber auch die bestehenden Städte wuchsen, nicht selten in kurzer Zeit um ein Vielfaches, und an den sibirischen Flüssen Angara und Jenissei wurden Wasserkraftwerke errichtet. Als im Zweiten Weltkrieg die deutsche Wehrmacht immer weiter nach Osten vorrückte und einen Großteil der russischen Industrieregionen im Westen des Landes in ihre Gewalt brachte, wandte sich der Blick auf die weiten Regionen östlich des Urals, wo vor allem in Kasachstan und Westsibirien Industrie-Großprojekte in Angriff genommen wurden. Über 300 Betriebe mitsamt Belegschaft wurden hierher verlegt, geschätzte zehn bis siebzehn Millionen Menschen kamen in dieser Zeit nach Sibirien.
Sibirien im Visier der Planer
Sibirien ist ein Land der Extreme: Aufgespannt über mehr als 8.000 Kilometer zwischen dem Ural im Westen und dem Pazifik im Osten nimmt es den Großteil des asiatischen Russland ein. Im Staatsverbund setzt es sich aus fünf Republiken und neun autonomen Regionen zusammen. (Dabei war die Frage, wo genau die Grenze zwischen Europa und Asien verläuft, immer wieder Gegenstand von Kontroversen.) Mit ihrem sibirischen Territorium bestreitet die Russische Föderation mehr als zwei Drittel ihrer Gesamtfläche. Sibirien ist riesengroß und dabei in weiten Teilen nur sehr dünn besiedelt, hat in mehreren Klimazonen extreme Kälte im langen Winter und große Hitze im kurzen Sommer zu bieten, ist reich an unberührter Natur und gezeichnet von Umweltzerstörung, besitzt im Norden Taiga und Tundra und viel Wasser, im Süden eher Steppe und viel Trockenheit, verfügt über urbane Industriezentren hier ebenso wie extreme Abgeschiedenheit da. Von den derzeit nur noch rund 25 Millionen Bewohnern leben die meisten in den großen und kleineren Städten des Südens: 90 Prozent. Zu den sibirischen Superlativen gehören einige mächtige Ströme: Lena, Ob/Katun, Irtysch und Jenissei, allesamt mit mehr als 4.000 Kilometer Länge.
In den begehrlichen Blick der Ingenieure und Projektplaner geriet Sibirien schon früh. Das konnte auch kaum anders sein bei einem so großen und rohstoffreichen, andererseits aber unterentwickelten Land, dessen Potenzial bislang nur zu einem Bruchteil genutzt worden war. Im 18. Jahrhundert begann man, noch zaghaft, das Land zu entwickeln. Ende des 19. Jahrhunderts träumte der Schriftsteller Zlatopolski, in den 1880er-Jahren ins beschwerliche sibirische Exil verbannt, von einer gigantischen, futuristischen Industriestadt, die ihren Bewohnern ein Höchstmaß an Lebensqualität, Reichtum und Bequemlichkeit bieten kann, weil Wissenschaft, Technik und Kunst vereint für ihre Perfektionierung arbeiten. Von solcherart Segnungen verwöhnt, müssen die Einwohner nur noch einen Bruchteil ihrer Zeit für Arbeit aufwenden. Die Vision blieb einstweilen Utopie, aber die Vorstellung, Sibirien zum Wohle der Menschen dienstbar zu machen, tauchte seither immer wieder auf. Der Gewerkschafter und Dichter Alexei Gastew bezog sich mitten im Ersten Weltkrieg auf Zlatopolskis Vision in »Express«, seiner »sibirischen Fantasie«: Darin präsentiert sich auf einer Fahrt mit dem Schnellzug »Panorama« vom Ural bis zum Pazifik Sibirien, wie es in der Vorstellung der zukunftsseligen Bolschewisten werden sollte. In der Tradition der Futuristen und wie später sein
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