Grandios gescheitert
Schriftstellerkollege Wladimir Sasubrin lobpreist er moderne Maschinen, technologische Errungenschaften und Tempo als Wert an sich. Aus den ungezähmten, menschenleeren sibirischen Weiten ist ein gut vernetztes Industriegebiet geworden, dessen ungenutzte Landschaften ordentlich bestellte, blühende Gärten sind. Auch hier ist die lichte Zukunft das Ergebnis eines Krieges gegen die Natur, die das Land noch unter einer dicken Schneeschicht schlummern lässt – bis menschliche Willenskraft und die Segnungen der Technik »die schlafende Schöne« Sibirien zu industrieller Pracht aufblühen lassen. Der Zug fährt schließlich durch einen Tunnel unter der Beringstraße weiter nach Alaska.
1948 proklamierte die KPdSU den Generalangriff auf die Naturgewalten – drei Jahre nach dem Sieg über Hitlerdeutschland und mit gewohnt militärischer Wortwahl. Für ein knappes Jahrzehnt nur hatte die Sowjetunion der Gigantomanie entsagt. Jetzt wurde der »Stalin’sche großartige Plan zur Umgestaltung der Natur« ausgerufen. Stalin störte sich nicht daran, dass er noch kurz zuvor den übergroßen Maßstab der Planer kritisiert, ja diese sogar wüst beschimpft hatte. Vielmehr erklärte er die Wiederaufbauphase nach den verheerenden Zerstörungen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg für beendet und rief zum Aufbruch an neue Ufer. Grund dafür war zum einen, dass die Wachstumszahlen besser waren als erwartet, gleichzeitig aber die Produktionskapazitäten der Kraftwerke mit dem wachsenden Strombedarf nicht mehr Schritt halten konnten, weshalb »die weiße Kohle« Wasserkraft nutzbar gemacht werden sollte. Die galt damals, vor dem Atomzeitalter, in aller Welt als die Energiequelle der Zukunft, weil sie im Unterschied zur fossilen Energie unerschöpflich und sauber war. Um die Kraft des Wassers nutzbar zu machen, wurde rund um den Globus Staudamm nach Staudamm gebaut – im Verlauf des 20. Jahrhunderts weltweit 800.000 kleinere und 45.000 größere. Letztere setzten rund eine Million Quadratkilometer Land unter Wasser, zerstörten Lebens- und Kulturräume und nahmen bis zu 80 Millionen Menschen ihre Heimat. Staudämme galten als »Weltwunder des 20. Jahrhunderts« und wurden mit den Pyramiden gleichgesetzt – es waren keineswegs die Kommunisten allein, die großspurige Vergleiche anstellten. Dennoch war dem ägyptischen Staatschef Nasser wichtig zu betonen, dass die Dämme im Unterschied zu den Pyramiden für die Lebenden gebaut wurden. Auch in der Sowjetunion schätzte man den Mehrwert der Dammbauten: Mit der Energieproduktion ließen sich auch Bewässerungs- und Entwässerungsmaßnahmen, Trinkwassergewinnung, positive Effekte für die Schifffahrt und weitere Verbesserungen der Infrastruktur sowie Potenziale für Freizeit und Tourismuswirtschaft verbinden.
Stolz präsentierte Pläne dieser Zeit zeigen ein großes Netz von wasserbezogenen Projekten links und rechts der Wolga, sowie zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer im Süden und einer Linie Moskau – Swerdlowsk (Jekaterinburg) im Norden. Solche Karten kündeten bis in die Satellitenstaaten der UdSSR von der Macht und Größe des großen Bruders. Im DDR-Jugendweihe-Pflichtbuch Weltall, Erde, Mensch der Ausgabe 1955 beispielsweise erhält die kolorierte Karte zum Aufklappen den Ehrenplatz am Ende des Buches sowie die Bildunterschrift: »Auf Grund der Beschlüsse der Kommunistischen Partei der Sowjetunion sowie der Sowjetregierung und ausgerüstet mit den höchsten Ergebnissen der Wissenschaft, baut das Sowjetvolk gewaltige künstliche Stauseen, viele neue Wasserstraßen, legt umfangreiche Waldschutzgürtel an und errichtet gigantische Wasserkraftwerke. – Es verändert sich das Antlitz der Natur.«
Eines der ersten Großprojekte war das Kraftwerk Bratsk gewesen, für das die Angara, ein Nebenfluss des Jenissei, gestaut wurde, wodurch zwischen 1954 und 1966 einer der größten Stauseen der ganzen Welt entstand. Mehr als einhundert Dörfer mussten weichen, fast 120.000 Menschen verloren dabei ihre Heimat. Weitere Staudämme folgten, darunter Krasnojarsk und, wenn auch erst in den Achtzigerjahren, Sajanogorsk am Jenissei, dessen Staudamm der heute größte der Russischen Föderation ist.
Solche Mammutvorhaben nahmen in der gesamten Sowjetunion unzähligen Menschen die Heimat. Einer ungefähren Rechnung zufolge verschlangen die gigantischen Wasserbauprojekte auf insgesamt rund 80.000 Quadratkilometern (eine Fläche doppelt so groß wie das Gebiet der Niederlande) 2.600 Dörfer,
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