Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grandios gescheitert

Grandios gescheitert

Titel: Grandios gescheitert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ingmar Gutberlet
Vom Netzwerk:
zugleich, wie eine Mischung aus Sixties-Lounge und futuristischer Kommandobrücke. In den Plastik-Schalensitzen mit Armatur in der Armlehne, um auf den Bildschirmen die gewünschten Diagramme, Statistiksäulen und Netzwerkdarstellungen aufflimmern zu lassen, hätten Lieutenant Uhura oder Captain Kirk, ohne zu zögern, Platz genommen. Allerdings hätten sie sich nicht mit den nervenzerfetzenden Gefahren der unendlichen Weiten des Weltraums, sondern mit schnöden Zahlenkolonnen der chilenischen Wirtschaftsbranchen befassen müssen – immerhin graphisch so aufbereitet, dass sie gut nachvollziehbar waren.
    Der Computer, ein IBM 360 / 50, war über Fernschreiber mit allen Staatsbetrieben verbunden. Pünktlich zum Frühlingsanfang 1972 erstellte der Cybersyn-Computer seinen ersten Bericht. Die Betriebe gaben tagtäglich Daten über Produktion, Personal und Energieverbrauch an die Zentrale weiter. Lagen die Werte nicht im zulässigen Spielraum, stand also eine Störung im Wirtschaftsablauf zu vermuten oder zu erwarten, erging ein Notsignal: zunächst an den fraglichen Betrieb und dann, wurde das Problem nicht behoben, zur jeweils nächsthöheren Instanz, deren höchste im Opsroom in Santiago zusammentrat. Beers Vorstellung zufolge kamen im Opsroom Mensch und Maschine zusammen, um ihre Fähigkeiten zu bündeln: Der Computer bereitete die Datenflut so auf, dass die Menschen auf ihrer Grundlage die richtigen Entscheidungen treffen konnten – etwa bezüglich einer Kapazitätsausweitung einer Branche, weil die Rohstoffpreise günstig oder die Exportchancen der Produkte gestiegen waren oder die Binnennachfrage angesprungen war. Und weil die »Symbiose Maschine-Mensch« reibungslos funktionieren sollte, brauchte es keinerlei Aktenwust oder auch nur Notizzettel – Beer wollte Papier aus dem Opsroom komplett verbannt sehen.
    Der Presse im In- und Ausland schien das Ganze unerhört. Die englische Zeitung The Observer titelte ungläubig: »Chile von Computer regiert«. Und die rechte chilenische Wochenzeitschrift Qué Pasa schimpfte: »Die UP (Allendes sozialistische Regierungspartei ›Unidad Popular‹) kontrolliert uns per Computer.« Vielerorts regte sich Empörung angesichts Chiles unkonventioneller Maßnahmen, andere Staaten hingegen erkannten das Potenzial. Damals noch autoritär regierte Länder wie Brasilien und Südafrika boten Beer an, sein Rezept ebenfalls in ihre Dienste zu stellen, was der Kybernetikguru postwendend ausschlug – aus Überzeugung.
    Ohnehin arbeitete Cybersyn einstweilen noch auf Sparflamme, weil die Aufgabe umfänglich und der eigentliche Auftrag, den sozialistischen Umbau der Wirtschaft zu bewerkstelligen, bereits erweitert worden war. Beispielsweise sollten in einem Vorgriff auf das Potenzial von E-Government im 21. Jahrhundert Feedback-Funktionen möglich sein, etwa um in Echtzeit nachzuvollziehen, ob das chilenische Volk mit der Regierungspolitik einverstanden war. Seine Feuertaufe schien Cybersyn aber bestanden zu haben: Im Oktober 1971 ermöglichten es während eines Streiks im Transportwesen die über Fernschreiber einlaufenden Informationen, die 40.000 Streikenden mit nur 200 loyalen Lkw-Fahrern auszutricksen, die notwendigsten Transporte durchzuführen und die komplette Lahmlegung der Wirtschaftsabläufe zu verhindern.
    Wie das Volk letztlich über das kybernetische Wirtschaftsregime der Regierung Allende geurteilt hätte, muss Spekulation bleiben. Denn Beer und seinem Team waren für ihr ehrgeiziges Projekt weniger als zwei Jahre vergönnt – sie konnten also nicht den Nachweis erbringen, dass Cybersyn seinen Auftrag erfüllen würde. Es zeichnete sich aber bereits ab, dass Inhalt, Dimension und Wirkungsweise des Projekts unterhalb der eigentlichen Planungsebene ob seiner Komplexität so stark verwässert wurden, dass es im fertigen Stadium bei der Nutzung von Cybersyn mächtig geknirscht hätte. Das sollte aber keine Rolle mehr spielen, denn bereits im Herbst 1973 setzte ein vom Ausland tatkräftig unterstützter Putsch dem sozialistischen Traum Chiles zum großen Wohlgefallen der USA ein Ende, Salvador Allende nahm sich das Leben. Damit war nicht nur das chilenische Experiment des Sozialismus Geschichte, sondern auch der bis dahin umfassendste und am weitesten gediehene Versuch, die Kybernetik im großen Umfang zur Anwendung zu bringen.
    Ungewiss muss also bleiben, ob das Ergebnis einer kybernetischen Revolution der sozialistischen Sache nicht doch alles andere als dienlich gewesen wäre:

Weitere Kostenlose Bücher