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Grandios gescheitert

Grandios gescheitert

Titel: Grandios gescheitert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ingmar Gutberlet
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­Décadi, der seine Sonderstellung nur noch de jure behauptete, de facto aber wieder vom Sonntag abgelöst wurde.
    Abermals drei Jahre später, als Napoleon sich im Jahr XIII (1804) selbst zum Kaiser krönte, überlebte dies der Revolutionskalender, der aber seither »französischer Kalender« genannt wurde. Erst weitere knapp zwei Jahre darauf wurde er ganz abgeschafft, und zwar zum 11. Nivôse XIV, dem 1. Januar 1806. Wichtigster Grund dafür war aber nicht etwa, dass die Dekadeneinteilung ohnehin weitgehend hinfällig geworden war und dass das neue System der Zeitrechnung nie vollends umgesetzt worden war. Vielmehr erwies sich nun als inakzeptabel, dass die Revolution eine neue Jahreszählung mit einem gegenüber dem gregorianischen Kalender verschobenen Jahresanfang verfügt hatte. Die aber konnte Napoleon schlechterdings nicht fortführen, wo er doch eben die Republik abgeschafft hatte, deren Einführung zum Neujahr und zum Ausgang einer neuen Jahreszählung erklärt worden war. Den Kalender jetzt noch beizubehalten war kaum vermittelbar. Da half auch nichts, dass dem Kalender der Französischen Revolution ein hohes Maß an Rationalität bescheinigt wurde, wie sie auch dem Kaiserreich als Positivum gelten sollte. Dies war auch einer der Gründe gewesen, ihn nicht schon früher abzuschaffen: Zu sehr hätte das den Eindruck erwecken können, man drehe das Kalenderrad einfach wieder zurück, ohne das Positive, Erneuernde der Revolutionszeit zu bewahren. Der neue Kalender aber war mehr als nur ein Symbol der Revolution: Er war längst auch zum Symbol für Modernität und Fortschrittlichkeit geworden, und diese Werte sollten Bestand haben. Noch dazu stellte der Staat einen neuen, europäischen Kalender in Aussicht, was die Rückkehr zum gregorianischen Kalender weniger rückschrittlich erscheinen lassen sollte, denn ein weiteres Argument war die kalendarische Isolation Frankreichs in Europa.
    Ein Paradoxon war es, das die Durchsetzung des französischen Revolutionskalenders vereitelte: Einerseits war der kalendarische Umsturz zu radikal, andererseits wurde er nicht entschieden genug betrieben. Das ließ den Beharrungskräften genug Raum, sich zu behaupten und bei geeigneter Gelegenheit Boden wettzumachen. Das Hin und Her bei der Einführung, vor allem des Décadi, tat ein Übriges. Auch musste der neue Kalender vom Scheitern der Dechristianisierung in Mitleidenschaft gezogen werden, war er doch als lichtes Gegenmodell zum alten Pfaffenkalender propagiert worden. Dennoch: Dieses Baby der Französischen Revolution erwies sich als kräftig genug, sich über dreizehn Jahre und noch in die napoleonische Zeit hinein einigermaßen behaupten zu können. Zu Fall aber brachte ihn die Wiedereinführung der Monarchie unter Bonaparte, der schwerlich in den Jahren jener Republik zählen lassen konnte, die er soeben abgeschafft hatte.
    Vielleicht hätte der französische Revolutionskalender eine Chance gehabt, wäre ihm mehr Zeit vergönnt gewesen, den Alltag und die allgemeine Zeitwahrnehmung zu durchdringen. Allerdings hätte Frankreich mit seiner isolierten Zeitrechnung auf ähnlich verlorenem Posten agiert wie der chinesische, der jüdische oder der islamische Kalender. Denn die Moderne beschleunigte den Prozess der Globalisierung und verlangte nach grenzüberschreitenden Normierungen. Dem gregorianischen Kalender kam aber bereits die Funktion einer Art Universalkalender zu, wenn auch nur der westlichen Welt, und er konnte sich seither im Zuge der Globalisierung nach westlichem Schema weltweit behaupten.
    Einen Versuch für einen weiteren Kalenderumsturz und Bestrebungen für die Einführung einer neuen Zeitrechnung hat es seither gleichwohl gegeben. Noch mehr in Vergessenheit geraten als der französische Revolutionskalender ist die kurzlebige Kalenderreform der Sowjetunion. 1929 wollte man nicht nur eine neue Jahreszählung, die rückwirkend mit der Oktoberrevolution 1917 einsetzen sollte, sondern vor allem einen neuen, »roten« Kalender, der die Modernisierung vorantreiben sollte. Ziel war die Abschaffung des unproduktiven Wochenendes – auf dass die Maschinen außer an fünf kollektiven Feiertagen nie mehr stillstünden, sollte das werktätige Volk in fünf farblich gekennzeichnete Gruppen eingeteilt werden, die im Schichtbetrieb jeweils vier Tage arbeiten und einen Tag ruhen sollten. Diese Maßnahme sollte gleichzeitig neben der Religionsausübung und im Sinne des sozialistischen Kollektivgedankens auch das

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