Grandios gescheitert
waren wichtig angesichts der Tatsache, dass damals die einfachen Menschen kaum lasen, falls sie diese Fertigkeit überhaupt beherrschten. Die Presse beschränkte sich ohnehin darauf, über die Kalenderreform zu berichten, setzte sich aber nicht übermäßig und schon gar nicht begeistert für die Reform ein.
Über Freiheit und Gleichheit, die dem Volk eine politische und soziale Existenz auf neuer Grundlage ermöglichten, ging der Anspruch der Revolution hinaus und erstreckte sich bald auch auf moralische und intellektuelle Volksbildung hin zur Tugendhaftigkeit, zu der auch der Kalender in all seinen Aspekten herangezogen wurde. Dass die Erziehung zum neuen Menschen auch ideologische Beeinflussung umfassen würde, lag auf der Hand, weil zum einen Ideologie notwendigerweise zum Programm der Revolution gehörte, zum anderen aber Rückschläge, Krieg nach innen und außen, Richtungskämpfe und Terror eine Radikalisierung bewirkten, die zur Verschärfung des ideologischen Aspekts beitrug. Auf den Kalender direkt bezogen bedeutete die Ideologisierung, dass er als das direkte Gegenteil des gregorianischen Kalenders dargestellt wurde, der als mittelalterlich und abergläubisch, unnatürlich und unwissenschaftlich dargestellt wurde. Der neue Kalender hingegen verband der revolutionären Sichtweise zufolge Rationalität mit Naturbezug, was sogleich unter den Tisch fallen ließ, dass er natürlich in seiner antiklerikalen Ausrichtung kaum weniger ideologisch war als sein Vorgänger. Übergangen wurden zudem einige Tatsachen: dass der gregorianische Kalender von der Substanz her römisch-antik war und Papst gregor ihn nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen flottgemacht hatte – und er, quand même , vortrefflich funktionierte.
Pferdefuß Zehntagewoche
Als überaus schwierig erwies sich die Einführung der Dekade und darin die Durchsetzung des Décadi als maßgeblicher Ruhetag und Ersatz für den gewohnten christlichen Sonntag. Im Widerwillen gegen diese Neuerung drückte sich vermutlich zunächst auch die Schwierigkeit aus, sich auf das veränderte Zeitregime einzustellen, denn Gewohnheiten spielen gerade bei zeitlichen Abläufen eine große Rolle. Unbewusst mag dazugekommen sein, was Chronobiologen viel später konstatierten: dass der Siebentagewoche ein natürlicher, biologischer Rhythmus zugrunde liegt, der uns eigen ist. Da konnte die neu gewonnene Klarheit wenig ausrichten, mochte auch nunmehr der erste Tag eines Monats stets auch der erste Tag einer Dekade sein, ein Primidi, weil endlich jeder Monat aus der genau gleichen Zahl an Untereinheiten bestand, nämlich aus drei Dekaden. Hätte sich diese Praxis durchgesetzt, wären heute viele Berechnungen auf Kalenderbasis bedeutend einfacher.
Aber natürlich trat der praktische Aspekt schnell in den Hintergrund, weil die Sonntagsfrage aus mindestens zwei Gründen emotional besetzt war: Zunächst liegt auf der Hand, dass mit der Dekade als »Zehntagewoche« übers Jahr eine spürbare Reduzierung der Ruhetage einherging, was dem werktätigen Volk nicht recht sein konnte, während es der Wirtschaft natürlich zupasskam. Eine strenge Handhabung machte außerdem denjenigen Probleme, die die christliche Sonntagsruhe auch weiterhin befolgen wollten. Bei aller Politik gegen die Kirche galt die Religionsfreiheit, und beide Ruhetage bestanden weiter nebeneinander, obwohl der Décadi später zum verbindlichen Feiertag gemacht wurde. Das galt für Verwaltungszwecke und im Sinne der staatlichen Dekadenfeiern als Konkurrenz zu den kirchlichen Sonn- und Feiertagen.
Zunächst gingen die Planungen dahin, die Wahl des Ruhetages innerhalb der Dekade jedem Einzelnen zu überlassen, aber dagegen sprachen sich die Befürworter einer Dechristianisierung aus, die den antiklerikalen Kalender als Erziehungsinstrument gegen die Kirche nutzen wollten. Trotz Religionsfreiheit sollte der Décadi als Festtag etabliert werden, und zwar mit einem Programm für alle 36 Dekadenfeste. Die Erarbeitung des Festkalenders zog sich hin; es gab unterschiedliche Auffassungen und viel Diskussionsbedarf, außerdem stand die Revolution im Auf und Ab der innen- und außenpolitischen Entwicklungen immer wieder vor drängenderen Problemen als dem Kalender. Mit zunehmender Sorge um die Zukunft der Republik angesichts eines scharfen innenpolitischen, sozialen und wirtschaftlichen Gegenwinds aber kamen die Mitglieder von Erziehungsausschuss und Konvent wieder häufiger auf das Thema Kalender und seine
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