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Grandios gescheitert

Grandios gescheitert

Titel: Grandios gescheitert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ingmar Gutberlet
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antiproletarisch, als aggressiv und zynisch sowie als Produkt des dem Untergang geweihten kapitalistischen Westens abgeurteilt worden, avancierte sie nunmehr zur supermodernen technologischen Wunderwaffe, mittels der sich die theoretische Überlegenheit des Marxismus-Leninismus auf dem Boden greifbarer Tatsachen erweisen würde.
    Um die Anwendung des Westimports zu rechtfertigen, unterschied man zwischen der Disziplin als solcher und ihren kapitalistischen Entstellungen und verankerte sie ideologisch lupenrein auf dem Boden der marxistisch-leninistischen Lehre. Mancher verstieg sich sogar darauf zu behaupten, der Westen habe die Kybernetik aus reiner Niedertracht absichtlich so aussehen lassen, als sei sie inakzeptabel für die sozialistische Welt – um sie ganz für sich zu behalten und gegen den Feind einsetzen zu können. Doch das sollte nun ein Ende haben. Der sowjetische Mathematiker Ernst Kolman verkündete 1956 frohgemut, die Kybernetik sei »die Technologie der Gesellschaft, die den Sozialismus errichtet«. Dies alles geschah in der sogenannten Tauwetterperiode in der Sowjetunion, in der Parteichef Chruschtschow seinen 1953 gestorbenen Vorgänger Stalin demontierte und für einige Jahre eine offenere Atmosphäre auch die Wissenschaften begünstigte. Außerdem war nach sowjetischer Auffassung der »Vater der Kybernetik« Norbert Wiener inzwischen zum Antikapitalisten mutiert – und das Militär interessierte sich für die »imperialistische Wissenschaft« in besonderem Maße.

Sozialistische Vereinnahmung
    Das kybernetische Tauwetter der Sowjetunion führte auch in den sozialistischen »Bruderländern« zu einer Lockerung der Verhältnisse. In der DDR, wo man der anfänglichen sowjetischen Verteufelung der Kybernetik folgsam gehorcht hatte, berief sich der fränkischstämmige Technik-Philosoph Georg Klaus nun auf sowjetische Kollegen, veröffentlichte Kolmans Aufsatz und analysierte in der SED-Zeitschrift Einheit das Potenzial der, wie er befand, zu Unrecht verdammten Kybernetik für den Sozialismus. Der euphorische Befund Kolmans klingt in Klaus’ Artikel – der sich als Wegbereiter der Kybernetik à la DDR erweisen sollte – erkennbar nach. Ein einleitendes Marx-Zitat verweist auf das Ideal der kommunistischen Gesellschaft, in der Arbeit nicht mehr bloße Erwerbstätigkeit fürs Überleben, sondern erstes Lebensbedürfnis und somit höchst vergnüglicher Alltag geworden sei.
    Auf dem Weg dorthin macht Klaus jedoch Hindernisse in der industriellen Massenfertigung aus. In deren sozialistischer Variante wird der Arbeiter politisch zwar nicht mehr ausgebeutet, weil ihm die Fabrik ja auch gehört, aber er kommt deswegen noch lange nicht in den Genuss sinnerfüllter Arbeitserfahrung. Um das zu erreichen, seien »völlig neue Produktionsinstrumente und Formen der Produktion« nötig, und die Lösung sieht Klaus in der Nutzung von damals noch recht jungfräulichen Computern und der Anwendung der Kybernetik. Die Tatsache, dass Computer nicht nur rechnen können, sondern auch logische Denkmaschinen seien, »macht sie zur selbständigen Kontrolle und Steuerung vollautomatischer Fabriken fähig«. Sie ermöglichten eine »technische Revolution«, die der ebenbürtig sei, in der der Mensch sich erstmals Werkzeuge schuf – und die nunmehr elektronisch gesteuert werden könnten. Und während die neuen Möglichkeiten nach Klaus’ Lesart die Krise des Kapitalismus in seiner imperialistischen Spätphase sogar noch verstärkten, gereichten sie den sozialistischen Ländern als »Momente eines unerhört raschen Aufstiegs«. »Der sozialistische und kommunistische Mensch der Zukunft wird ein schöpferischer Mensch sein (…), der alle Routinearbeiten seinen Geschöpfen, den Maschinen, überlässt.«
    Gleichzeitig mit der gesellschaftlichen Entfremdung wird die technische Entfremdung überwunden. Nach Klaus’ Einschätzung stehe damit eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit an, mehr Lebenszeit könne auf Bildung, Sport und kulturelle Betätigung verwendet werden. Insgesamt sei es der Gesellschaft möglich, viel mehr Kraft auf Wissenschaft und Forschung zu legen – abermals zum Wohle der Menschen.
    Die Kybernetik ist also, was dem sozialistischen Menschen und mithin der sozialistischen Gemeinschaft zum Glück noch fehlt. Klaus entwarf ein verführerisches Bild von vollautomatischen Fabriken, in denen nur noch zu Wartungszwecken gelegentlich Reparaturbrigaden auftauchen. Das passte zum aktuellen Wirtschaftskurs der

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