Grandios gescheitert
dem 2. Plenum des Zentralkomitees der SED, ihren Segen. Auf dem VI. Parteitag der SED im Januar 1963 schließlich verkündete Staatschef Walter Ulbricht: »Die Kybernetik ist besonders zu fördern.« Und mit dem Neuen Ökonomischen System schien die große Stunde der DDR-Kybernetik gekommen zu sein. Nicht nur einzelne Betriebe sollten mit kybernetischen Methoden in ihren Abläufen optimiert werden, sondern die staatliche Planwirtschaft insgesamt. Durch das gebündelte Potenzial von Computertechnologie und ihrer kybernetischen Anwendung sollte ein großer Sprung nach vorne möglich sein, mit dem man die westliche Konkurrenz weit hinter sich zu lassen hoffte. Seither verwendete Walter Ulbricht die ebenso griffige wie dialektische Formel vom »Überholen, ohne einzuholen«, die er sich noch dazu bei einem sowjetischen Kybernetiker geborgt hatte.
Hand in Hand sollten Computerfachleute, Wissenschaftler, Ingenieure und Wirtschaftspraktiker arbeiten, um tragfähige langfristige Prognosen über den nötigen Output der DDR-Betriebe zu erstellen: Was war nötig, um die Binnennachfrage zu befriedigen, was war für den Export einträglich, was vermochte die DDR-Industrie zu leisten und was benötigte sie dafür? Gleichzeitig beschloss man, sich auf bestimmte Kernbereiche zu spezialisieren – Maschinenbau und chemische Industrie, Elektronik- und Computerwirtschaft –, darin die Innovation voranzutreiben sowie im Sinne effektiverer Fertigung die Automatisierung der gesamten Volkswirtschaft weiterzuentwickeln.
Aber Ulbrichts Wirtschaftsreformen krankten an allen möglichen Mängeln, die sich insgesamt unter dem Befund zusammenfassen lassen: Die Quadratur des Kreises wollte nicht gelingen. Mittels marktwirtschaftlicher Elemente und im Schielen auf die dynamischen Weltmärkte sollte die sozialistische Wirtschaft konkurrenzfähig gemacht werden, ohne das System der Planwirtschaft zu überwinden oder das Prinzip aufzugeben, dass die Partei stets das letzte Wort beanspruchte. Diese widersprüchlichen Aspekte der Reform behinderten sich gegenseitig, und die Erfolge waren spärlich und nicht nachhaltig. Hinzu kamen mangelnde Sachkompetenz und die Kurzatmigkeit ungeduldiger Entscheidungsträger, wo es eines langen Atems bedurft hätte. Da der Reformeifer der SED angesichts weitgehend ausbleibender Erfolge und politischer Entwicklungen bald erlahmte, war dem Umbau der Wirtschaft eine allzu kurze Spanne vergönnt, auf innovativen Wachstumskurs einzuschwenken. Angesichts der vielen strukturellen und ideologischen Widerstände dagegen hätte es viel mehr Zeit gebraucht – aber dafür auch robustere Verhältnisse. Die als Hoffnung gestarteten Wirtschaftsreformen endeten als Enttäuschung, und was im Großen misslang, scheiterte im Detail bei der Anwendung der Kybernetik, deren große Stunde nur einige Jahre währte.
Für viele Reformgegner im Regierungs- und Parteiapparat galt die vormalige Heilslehre Kybernetik nunmehr als Grund für das Versagen der Reform. Dass sie noch gar nicht wirklich zur Anwendung gekommen war, tat da weiter nichts zur Sache – ein Sündenbock musste her. Hinzu kam ein ideologisch schärferer Wind gegen Ende der Sechzigerjahre, als der »Prager Frühling« den Sozialismus reformieren, entrümpeln und menschlicher gestalten wollte. Dem aber widerstanden die Beharrungskräfte der Machteliten: Der Prager Frühling wurde militärisch erstickt, und in der DDR geriet die Kybernetik ins Abseits. Das Problem der Ideologen bestand darin, dass die Kybernetik zu einer allgegenwärtigen Modeerscheinung geworden war, die jedermann in wechselndem Sinne auslegte. Das aber brachte in den Augen des DDR-Chefideologen Kurt Hager den Unfehlbarkeits- und Unantastbarkeitsstatus des Marxismus-Leninismus in Gefahr. Ihm musste ja schon der Titel einer Studie unheimlich vorkommen, den der »rote Baron« Manfred von Ardenne Ende 1968 im Auftrag Ulbrichts erstellt hatte: Systemtheoretische Betrachtung zur Optimierung des Regierens . Auch wenn der Dresdner Privatunternehmer darin wohlweislich betonte, das System ändere an den Machtverhältnissen gar nichts, konnten dem menschlichen Gehirn haushoch überlegene Computer dem Leitsatz »Die Partei hat immer recht« doch durchaus gefährlich werden. Denn die Partei konnte ja schwerlich in die Hände von Computern gelegt und auch die marxistische Lehre nicht kybernetisiert werden.
Kurt Hager verkündete also in einem Referat bei der 10. Tagung des ZK der SED im Frühjahr 1969: »Wenn bei einer
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