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Grandios gescheitert

Grandios gescheitert

Titel: Grandios gescheitert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ingmar Gutberlet
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von Physikern bis Psychologen, von Philosophen bis, in manchen Ländern, zu Ideologen. Und mit der Vielfalt möglicher Anwendungen kamen weitere Fachleute ins Spiel, in deren Gewässern die Kybernetiker zu fischen gedachten. Unter dem Dach Kybernetik etablierten sich diverse Hybridwissenschaften: Biokybernetik, die technische Kybernetik der Nachrichten- und Computertechnik, Humankybernetik und Wirtschaftskybernetik, um nur die wichtigsten zu nennen. Kein Wunder also, dass während der kurzen Blütezeit der Disziplin Hunderte, wenn nicht Tausende Definitionen davon in Umlauf kamen, was denn Kybernetik nun eigentlich sei.
    Geburtshelfer der Kybernetik war der Zweite Weltkrieg, als der Mathematiker Wiener für die Verbesserung der Abwehr feindlicher Fluggeschwader an einem Rechenautomaten arbeitete, der den Kurs der Piloten vorhersagen sollte. Dabei ging es sowohl um technische Aspekte als auch um Pilotenentscheidungen – ein höchst komplexer Vorgang der Interaktion von Mensch und Maschine sollte also zuverlässig prognostiziert werden. Das gelang damals zwar nicht, doch war damit eine neue Disziplin geboren, die nach einer Theorie von Steuerungsabläufen und Informationsvermittlung forschte, die für Mensch und Maschine gleichermaßen gilt. War eine solche Analogie zwischen Mensch und Maschine in ihrem System, sich zu regeln, theoretisch gefasst, ließen sich damit komplexe Systeme, in denen Mensch und Maschine zusammenwirken, besser verstehen und konzipieren, steuern und optimieren. Und es ließen sich lernfähige Systeme entwickeln, die die eigenen Fehler ausmachen und selbst beheben können. Noch einmal nach Aumann: »Wiener verwischte die Grenzen zwischen Mensch und Maschine. Der Mensch war lediglich ein mechanistisches Element in einem Untersuchungssystem, und die Maschine wurde vermenschlicht, indem ihr Strategiefähigkeit verliehen wurde.« Wieners Kybernetik arbeitete also an der Schnittstelle von Natur und Technik und bezog daher Forschungserkenntnisse aus beiden Gebieten ein.
    Zu den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, von technischem Fortschritt, umfassender Modernisierung und allseitiger Beschleunigung geprägt, passte dieser neue Wissenschaftszweig vortrefflich. In einem wissenschaftlichen Umfeld von Machbarkeitsgläubigkeit, technischer Euphorie sowie mathematisch-rationaler Herangehensweise auch an Fragen der Biologie stieß die Kybernetik auf reges Interesse. Erinnern wir uns: Das Atomzeitalter war angebrochen, das Computerzeitalter stand ebenso bevor wie das der Raumfahrt. Und als gefügige Disziplin ließ die neue Wissenschaft sich den Erwartungen, Bedürfnissen und Zielen von Staaten und Gesellschaften und sogar Ideologien passend machen. Insofern erhielt sie in verschiedenen Ländern unterschiedliche Ausformungen, wobei beispielsweise der marxistischen Auslegung zupasskam, dass die neue Disziplin auch gleich eine neue, ideologisch einstweilen unbelastete und hübsch wissenschaftlich klingende Terminologie mitlieferte.
    Zunächst aber stellte die Kybernetik eine US-amerikanische Angelegenheit dar. Von Nordamerika aus kam sie um 1950 nach England, Frankreich und (West-)Deutschland – wo es, ebenfalls im Zweiten Weltkrieg, unter dem Namen »Regelungstechnik« bereits einen wissenschaftlichen Vorlauf gegeben hatte. Jenseits des Eisernen Vorhangs jedoch hatte es die Kybernetik als Westprodukt zunächst schwer, noch dazu auf einem ersten Höhepunkt des Kalten Krieges und in einer Phase staatssozialistischen Misstrauens gegenüber den Wissenschaften. Aber wenn auch der Wissenschaftsbetrieb der sozialistischen Länder von der herrschenden Ideologie abhängig war und mit den Prinzipien des wissenschaftlichen Sozialismus vereinbar sein musste, konnte sich doch eine verfemte Disziplin in ein Hätschelkind verwandeln. So erging es der Kybernetik in der Sowjetunion: In den frühen Fünfzigerjahren wurde sie als reaktionäre, bürgerliche, zutiefst obskure Pseudo­wissenschaft verteufelt, und das sowjetische Philosophische Handwörterbuch schrieb 1954 von einer »reaktionären Pseudowissenschaft«, die der unmenschlichen Tendenz des Kapitalismus entspreche, den Arbeiter zu einem bloßen Anhängsel der Maschine zu degradieren.
    Am Ende des Jahrzehnts jedoch avancierte sie zur anerkannten Disziplin, nunmehr in den Dienst für den Kommunismus gestellt. War also eben noch die kybernetische Analogie zwischen menschlichem und Computergehirn und ihre praktische Anwendung in komplexen Systemen als inhuman und

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