Grandios gescheitert
Sowjetunion, wo Chruschtschow soeben ein »Automationsministerium« installiert und 1961 der XX. Parteitag der KPdSU der Kybernetik den offiziellen Segen erteilt hatte: »Das neue, sozialistische Zeitalter ist das Zeitalter der Atomenergie, der elektronischen Rechenmaschinen, der Vollautomatisierung der Betriebe und der Weltraumschifffahrt. (…) Kybernetik, elektronische Rechenmaschinen und Steuerungsanlagen werden bei den Produktionsprozessen in der Industrie, der Bauindustrie und dem Verkehrswesen, im Forschungswesen, bei der Planung, beim Projektieren und Konstruieren, in der Rechnungsführung und Verwaltung weitgehend angewandt werden.« Wie es schien, hatte der Sozialismus neben dem Marxismus-Leninismus eine weitere Universalwissenschaft gefunden.
Geheimrezept Wirtschaftskybernetik
Vor allem in ihrer Ausformung als Wirtschaftskybernetik musste die neue Wissenschaft den sozialistischen Ländern als verführerisch genug erscheinen, um sie kurzerhand ideologisch zu vereinnahmen. 1959 hatte Stafford Beer die Studie Kybernetik und Management vorgelegt und damit rasch Furore gemacht. Der rauschebärtige Brite bezeichnete die Kybernetik als »Wissenschaft der effektiven Organisation«. Die befand er auch als bitter nötig, denn die Komplexität der Welt und ihrer Systeme, also vor allem Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, übersteige längst die menschliche Fassenskraft. Ohne die Assistenz fähiger Computer laufe da alsbald gar nichts mehr, die aber könnten die Informationsprozesse komplexer Gebilde nachstellen und steuern – noch dazu in einem Tempo, das den Systemkollaps verhindere. Beer verglich die Notwendigkeit schneller Entscheidungsfindung mit einem einfachen Vorgang: Wer den Bus nicht verpassen wolle, müsse ein Gehirn besitzen, das in der gebotenen Zeit alle physiologischen Impulse gebe, damit er es auch rechtzeitig zur Bushaltestelle schafft. Analog dazu brauchte die Wirtschaft in ihrer Komplexität elektronische Superhirne, um reibungslos zu funktionieren.
Für die Wirtschaftspraxis ging es insbesondere um die Aspekte Automatisierung, Informationsfluss und computergestützte Entscheidungsfindung. Was die Entscheidungsfindung in den Industriestaaten betraf, so sah man sich damals in Ost und West gleichermaßen mit dem Problem konfrontiert, dass die Wirtschaft immer komplexer, also schwieriger zu managen wurde und damit entsprechend instabiler und launischer. Sowohl das System als Ganzes als auch die Steuerung einzelner Wirtschaftszweige oder auch nur eines Unternehmens wurde immer komplizierter. Selbst im Westen war nicht jeder Fachmann der Ansicht, das System Wirtschaft funktioniere von selbst, lerne von sich selbst, reformiere sich selbst und müsse daher nicht beeinflusst werden. Die Planwirtschaftler des Ostens aber ließen Beers Thesen über die Steuerung und Regelung von Wirtschaftskreisläufen hellhörig werden. Wenn Volkswirtschaften längst zu komplex geworden waren, als dass sie sich noch präzise beschreiben ließen, war das ganze System nur noch beherrschbar, wenn Computer eingesetzt wurden, die komplexer und schneller kalkulieren könnten als ein Trupp Manager, der sich in einem Endlosmeeting die Köpfe heißredet. Die Entscheidungskompetenz sollte daher vom Menschen übergehen auf den Computer, dem alle notwendigen Daten in all ihrer Fülle zur Verfügung stehen, um daraus die gebotenen Entscheidungen unbestechlich und objektiv herauszufiltern. Eine Volkswirtschaft als kybernetisches System im Großen müsse mit den Unternehmen als kleineren kybernetischen Einheiten so abgestimmt werden, dass alle Systeme miteinander kommunizieren und sich an die Bedingungen anpassen können, befand Beer. Mit kybernetischen Methoden könne erreicht werden, dass System und Teilsysteme rasch lernen, sodass Fehler rasch behoben werden und das System als Ganzes funktions- und leistungsfähig bleibt. Computergestützt könne dieses Lernen außerdem schnell genug vonstattengehen, um dem Tempo wirtschaftlicher, politischer, technischer oder sozialer Veränderungen zu entsprechen, anstatt ihnen mühsam hinterherzuhinken.
Welch eine Verheißung: ein wissenschaftlich fundiertes Werkzeug, um aus problemgebeutelten Planwirtschaften geschmeidig funktionierende Gebilde zu machen, ohne dafür die Planvorgaben zugunsten eines »freien Spiels der Märkte«, wie es der Westen mit ungleich mehr Erfolg vormachte, aufgeben zu müssen. Und auch der theoretische Überbau dieser Strategie musste sozialistischen Ökonomen
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