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Grandios gescheitert

Grandios gescheitert

Titel: Grandios gescheitert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ingmar Gutberlet
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gefallen, die sich auf dem Boden des wissenschaftlichen Marxismus-Leninismus bewegten. Dass es für die Ideologen der Parteiherrschaft von der Heilslehre Kybernetik zu ihrer Verteufelung nur ein kleiner (Rück-)Schritt war, sollte sich aber noch erweisen.
    Die kybernetische Fabrik der Zukunft sollte mit sehr viel weniger Arbeitskräften auskommen, weil die Produktion maschinen- und computergestützt ablaufen würde: Die für die Herstellung einer vorab auf der Basis unfehlbarer Bedarfsberechnungen bestimmten Zahl von Endprodukten nötige Menge Rohstoffe erreicht die Fabrik, durchläuft mit nur wenig Menschenkontakt die Produktionsabläufe und verlässt sie als fertige Produkte wieder. In der DDR wurden solche Visionen popularisiert, um den Menschen des Staates, der sich per Hymne als »der Zukunft zugewandt« verstand, die lichten Aussichten vor Augen zu führen. Das DDR-Jugendsachbuch Weltall, Erde, Mensch , das als »Sammelwerk zur Entwicklungsgeschichte von Natur und Gesellschaft« einen weiten Bogen schlug und jahrzehntelang als Jugendweihebibel fungierte, bietet in seiner Ausgabe von 1965 das bunte Bild einer vollautomatisierten Fabrik. Im Untertitel heißt es: »Trotz hoher Kapazität sind die Anlagen verhältnismäßig klein. (…) Wenige Mitarbeiter lenken von den zentral gelegenen Verwaltungs- und Steuerräumen aus den gesamten Produktionsablauf und das Zusammenspiel mehrerer solcher Betriebsabschnitte.« In der Ausgabe von 1966 ist zu lesen: »Die Anwendung moderner Rechenmaschinen und Datenverarbeitungsanlagen, der Kybernetik, macht es möglich, die Verwaltungsarbeit zu automatisieren und selbst einen großen Teil der monotonen geistigen Arbeit von Maschinen ausführen zu lassen. Das hat einen tiefen Einfluss auf den Charakter der Arbeit und die Stellung des Menschen in der gesellschaftlichen Produktion. Es entsteht zum ersten Mal die Möglichkeit, dass sich nicht nur eine kleine Schicht, sondern die unmittelbaren Produzenten mit schöpferischer Arbeit befassen.«
    Zu einer Zeit, als Computer noch raumfüllend waren und als Elektronenhirne oder Großrechner bestaunt wurden, als das modernste Elektronik-Tool im Alltag ein Schwarzweißfernseher mit großen Knöpfen war und sehr viel mehr Menschen als heute mit dem Begriff Schwerstarbeit noch persönliche Erfahrungen verbanden, waren klinische Fabriken mit Computersteuerung eine faszinierende Verheißung. Denn damals tickte die Welt noch analog, nicht digital. Hätte ein Zeitreisender aus dem 21. Jahrhundert erklären wollen, dass auch fünf oder sechs Jahrzehnte später das Gehirn noch immer nicht völlig entschlüsselt sein wird, es noch kein Computer strukturell und qualitativ mit dem menschlichen Gehirn wird aufnehmen können und der »kognitive Chip« trotz aller Versprechungen noch in weiter Ferne liegen wird – er wäre vermutlich ausgelacht worden.
    Was damals beeindruckte, war die Tatsache, dass eine Rechenmaschine vieltausendfach schneller war als ein Mensch. Und das nährte die freudige oder ängstliche Erwartung, dass in absehbarer Zeit ein Computer das Menschenhirn nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ ausstechen würde. Die Kybernetik würde also die unzähligen kleinen und größeren Systeme und Kreisläufe der Volkswirtschaft unter ihre Fittiche nehmen und mit Hilfe von Computern unfehlbar steuern können. Keine Engpässe mehr, keine Fehlplanungen, keine angespannte Versorgungslage – dafür eine rasante Entwicklung hin zum sozialistischen Wirtschaftswunderland.

Heilsversprechen für Planwirtschaftler
    Kein Wunder also, dass dieses technische Heilsversprechen in den problemgebeutelten Wirtschaften der Ostblockländer auf ein zustimmendes, wenn nicht begeistertes Echo stieß. Bei den Theoretikern fielen die Reaktionen durchaus zwiespältig aus; in der DDR dauerte es noch einige Zeit, bis Klaus’ Strategie, die Kybernetik hoffähig zu machen, aufgegangen war. In der maßgeblichen Tageszeitung Neues Deutschland wie in seinem Buch Kybernetik in philosophischer Sicht stellte Klaus die neue Disziplin auf das solide Fundament der marxistischen Weltanschauung – wichtigste Voraussetzung für ihre Anerkennung und Anwendung. Die Rückendeckung der Entwicklung im großen Vorbild Sowjetunion gab vermutlich den Ausschlag, und als das Jahr des Durchbruchs der Kybernetik in der DDR darf das Jahr 1961 gelten, als schließlich eine »Kommission für Kybernetik« ins Leben gerufen wurde. Die Partei erteilte der neuen Wissenschaft Ende 1962, auf

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