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Grandios gescheitert

Grandios gescheitert

Titel: Grandios gescheitert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ingmar Gutberlet
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umfassenden Analyse der kybernetischen Aspekte der Organisation und Entwicklung der Gesellschaft der Begriff der ökonomischen Gesellschaftsformation überhaupt keine Rolle mehr spielt, so führt dies praktisch zu einer Abwertung der theoretischen Leitsätze und Begriffe der marxistisch-leninistischen Gesellschaftstheorie.« Auch im SED-Theorieblättchen Einheit schoss das Politbüro-Mitglied gegen die »Systemiker«: »So wichtig Kybernetik und Systemtheorie sind und bleiben, so können wir natürlich nicht zulassen, dass sie an die Stelle des dialektischen und historischen Materialismus, der politischen Ökonomie des Sozialismus, des wissenschaftlichen Kommunismus oder auch der sozialistischen Leistungswissenschaft treten, dass sie verabsolutiert werden und dass die Sprache einer Spezialwissenschaft die politische Sprache der Partei sein wird. Die Partei würde damit aufhören, eine marxistisch-leninistische Partei zu sein.«
    Im Neuen Deutschland gab Hager schließlich einem größeren Publikum die neue Richtung vor. Aus seiner Sicht lief man Gefahr, die Kybernetik als Metawissenschaft auch dem wissenschaftlichen Marxismus-Leninismus überzuordnen. Was aber den Absolutheitsanspruch der Partei und ihrer Glaubenssätze in Frage stellte, durfte nicht sein. Mit einem Mal wurde die neue wissenschaftliche Disziplin, die in diversen Arbeitskreisen und Kommissionen ihren Beitrag zur Modernisierung der DDR leisten sollte, nicht mehr gefördert, sondern behindert. Wer die Gunst der Partei verlor, hatte verspielt. Möglich waren kybernetische Ansätze schon bald nur mehr auf untergeordneter Ebene und in einer Größenordnung, die der marxistischen Lehre nicht gefährlich werden konnte. Die Kybernetik wurde also gleichsam marxistisch domestiziert – und damit ihres Potenzials beraubt.
    Gleichwohl geht diese Entwicklung einher mit dem Schicksal der Kybernetik in den westlichen Ländern, die damals ebenfalls an Rückhalt verlor. Gemeinsam war der Entwicklung in Ost und West, dass Kybernetik beidseits des Eisernen Vorhangs zu einem Modebegriff geworden war, der für alles und nichts Verwendung finden konnte. Dass die Disziplin sich noch immer einer klaren Definition und damit inhaltlichen Eingrenzung verweigerte, gereichte ihr nunmehr zum Nachteil. In der DDR ließen sich immerhin die Satiriker anregen, die Modeerscheinung Kybernetik genussvoll aufs Korn zu nehmen. Im April 1969 beispielsweise druckte das stets linientreue Ostberliner Satiremagazin Eulenspiegel den humorigen Lebenslauf eines »Kyberto Meier« anhand kybernetischer Begriffe; in anderen Ausgaben machten sich Cartoonisten über die plötzliche Computerhörigkeit lustig. Eine Zeichnung des Jahrgangs 1971 zeigt Ingenieure, die einen riesigen Zentralrechner mit Papierstößen voller Daten füttern – in der Hoffnung auf das Geheimrezept gegen die wirtschaftliche Malaise. Doch was der Computer ausspuckt, ist eine fertig gebundene Marx-Ausgabe: Die Rezepte sind längst alle vorhanden.
    Abgesehen von dem feindseligen Gemisch aus Ungeduld und ideologischen Eifersüchteleien waren die kybernetischen Visionen schwerlich umzusetzen, wenn nicht die entsprechenden Computerkapazitäten zur Verfügung standen. Nicht nur sind die raumfüllenden Großrechner der Sechzigerjahre kaum mit dem zu vergleichen, was heutzutage jeder Student im Rucksack mit in die Bibliothek nimmt. Aber selbst was dem technologischen Entwicklungsstand der Zeit entsprach, stand den DDR-Kybernetikern gar nicht zur Verfügung, denn der Aufbau einer eigenen Mikroelektronikindustrie der DDR kam nicht voran. Angesichts des westlichen Embargos von Hochtechnologieprodukten wäre man aber darauf angewiesen gewesen, aus eigener Kraft eine eigene Industrie aufzubauen, trotz der Politik der UdSSR, ihre Satellitenstaaten zumal auf diesem Gebiet nicht über die Maßen erfolgreich werden zu lassen. Das Programm zum Aufbau einer eigenen Mikroelektronikindustrie scheiterte jedoch, obwohl es seit den Fünfzigerjahren beachtliche Bemühungen in dieser Richtung gegeben hatte. Bereits Ende des Jahrzehnts lag die Halbleiterforschung der DDR im Vergleich zu den restlichen Industriestaaten um sechs Jahre zurück – weil trotz aller Beschlüsse die staatliche Unterstützung lächerlich gering war und das planwirtschaftliche System innovationshemmend.
    Anfang der Sechzigerjahre bestand die Möglichkeit, die Entwicklung von Mikrochips voranzutreiben und es in der Mikroelektronik mit dem Westen aufnehmen zu können. Aber auch

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