Granger Ann - Varady - 02
beobachtet!«, regte Ganesh
sich auf. »Und er hat außerdem rosa Schlangen, riesige Pandas und kleine Männchen in grünen Jacken gesehen, die auf
der Fiedel spielen!«
Ganesh kann manchmal richtig schwierig sein, und im
Augenblick war er es ganz besonders. Wir waren vom Bahnhof geradewegs zu meiner neuen Wohnung gegangen und
hatten auf dem ganzen Weg dorthin gestritten. Jetzt saßen
wir über aufgewärmtem indischem Dhal und stritten immer
noch. (Ich bin keine Köchin. Ganesh hatte das Dhal in einer
Plastikdose aus High Wycombe mitgebracht.) Nicht nur das
Dhal war aufgewärmt. Wir wärmten Alkie Albies Geschichte
gerade zum x-ten Mal auf.
»Ich glaube ihm«, meinte ich schon etwas schnippisch.
»Hauptsächlich wegen der Einzelheiten, wie beispielsweise
das Tuch mit den K.-o.-Tropfen.«
Gan legte seine Gabel beiseite. »Jetzt komm schon, so was
kann sich jeder ausdenken!«
»Und das Aliceband.«
»Das was?«
Ich erklärte ihm, dass es sich um eine bestimmte Sorte
von Haarbänder handele. »Klar hätte er sie beschreiben
können, wie es ihm gerade in den Sinn kam. Aber ein Detail
wie dieses Haarband denkt man sich nicht einfach eben mal
aus. Er hat sie gesehen. Außerdem bedeutet die Tatsache,
dass er ein Penner ist, nicht zwangsläufig, dass er nicht mehr
beobachten kann.«
Gan schob seinen Teller von sich. »Du glaubst echt, ich
hätte überhaupt keine Ahnung davon, wer der alte Kerl ist,
was? Du irrst dich! Der läuft immer in diesem Teil der Stadt
herum. Nur hast du ihn zufällig noch nie vorher gesehen.
Lass dir sagen, du hast ihn an einem guten Tag erwischt! Er
ist nicht mehr zu retten. Normalerweise ist er sturzbetrunken, und je betrunkener er ist, desto aggressiver ist er. Er
stolpert durch die Gegend, schüttelt die Faust und stellt sich
willkürlich Passanten in den Weg, um ihnen Schläge anzudrohen. Sobald Onkel Hari ihn sieht, rast er nach vorn und
verrammelt die Tür, für den Fall, dass Alkie Albie in den
Laden kommen will!«
»Ich weiß überhaupt nicht, warum dein Onkel versucht,
ein Geschäft zu führen«, nörgelte ich genervt. »Er vertraut
niemandem, der den Laden betritt! So bekommt er nur ein
Magengeschwür! Warum sucht er sich nicht ein anderes Betätigungsfeld, eines ohne Kinder, die ihn bestehlen könnten?
Wir könnten beispielsweise eine Reinigung hier in der Gegend gebrauchen.«
Ganeshs Miene hellte sich auf. »Du und ich, wir könnten …«
»Nein, könnten wir nicht, Gan!«
»Es ist ein anständiges Geschäft!«
»Ich ertrage den Chemikaliengestank nicht«, widersprach
ich entschieden.
Auch das war ein aufgewärmter alter Streit. Wir alle haben unseren Traum, genau wie ich es Daphne gesagt hatte.
Ganeshs Traum war es, mit mir zusammen irgendwo ein
Geschäft aufzumachen. Die Vorstellung, an einen Laden gebunden zu sein, erschien mir jedoch ganz und gar nicht als
Traum, vielmehr als ein ausgemachter Albtraum. Ich
verstand Onkel Haris Neurosen nur zu gut. Mit der Verantwortung für einen Laden würde ich enden wie Onkel
Hari, würde Pillen mit Kräutermedizin schlucken und
schuften bis zum frühen Tod durch Herzversagen. Allein
der Gedanke, an irgendetwas gebunden zu sein, erfüllt mich
mit Abscheu, wie man so schön sagt. Mit anderen Worten,
es macht mir eine Scheißangst.
Ich hatte gegenwärtig keinen Job, und ich hatte keine
Familie, zugegeben. Aber ich hatte meine Unabhängigkeit –
und habe sie – Gott sei Dank! – immer noch. Sie wächst mir
mehr und mehr ans Herz, und zwar mit jedem Mal, das ich
mit ansehen muss, welchen Preis andere dafür zahlen, die
ihre Unabhängigkeit weniger hoch schätzen als ich und sie
aufgeben. Das ist der Grund, warum ich mit Daphne so gut
harmoniere. Nichts zu besitzen ist nicht notwendigerweise
schlecht. Nichts zu besitzen bedeutet nämlich auch, dass
man von nichts besessen wird. Ich habe eine anständige
Wohnung, im Augenblick jedenfalls, ansonsten aber habe
ich nichts (außer Ganesh als Freund, und das ist eine Menge
wert).
Aber nehmen wir zum Beispiel Ganesh. Er steht seiner
Familie sehr nah, und sie liebt ihn. Sie setzt allerdings auch
Erwartungen in ihn. So etwas ist eine schreckliche Last für
einen Menschen. In mich setzt niemand Erwartungen, nicht
mehr. Großmutter Varady und Dad hatten Erwartungen in
mich, und ich habe sie enttäuscht. Es tut mir sehr Leid und
wird es wohl immer tun, doch ich kann nichts mehr daran
ändern. Niemand kann die Vergangenheit ändern; man
kann höchstens – oder sollte
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