Granger Ann - Varady - 04
half ihm dabei, die Sonntagsbeilagen in die jeweiligen
Zeitungen zu sortieren. Die Beilagen wurden von Mal zu Mal
dicker, jedenfalls hatte ich den Eindruck. Man sollte nicht
glauben, dass die Leute Zeit fanden, all das zu lesen. Doch
wenn man einmal vergaß, beispielsweise die Motorbeilage in
den Sunday Telegraph zu legen, dann stand der Käufer innerhalb von dreißig Minuten vor der Theke und verlangte ärgerlich zu erfahren, warum er nicht die vollständige Ausgabe erhalten hatte. Also muss man eine Beilage aus einer anderen
Zeitung ziehen, weil es nie eine überzählige als Reserve gibt.
Wenn eine fehlt, dann bedeutet das in der Regel, dass man
versehentlich zwei Motorbeilagen in eine andere Zeitung gelegt hat. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill? Und wenn
man nun eine aus einer anderen Zeitung nimmt und der
nächste Kunde ebenfalls reklamiert, dann entwickelt sich das
Ganze zu einer unglückseligen Kettenreaktion.
Es war also ein ganz normaler Tag, und trotzdem war
nichts normal. Es war ein Tag wie kein anderer. Es war der
Tag, an dem ich mit einer Frau in Kontakt treten würde, die
vor vierzehn Jahren einfach aus meinem Leben davongegangen war und von der ich geglaubt hatte, sie niemals wiederzusehen.
Ich frühstückte oben zusammen mit Onkel Hari und Ganesh, und als beide nach unten in den Laden gegangen waren, griff ich zum Telefon und rief Clarence Duke an.
»Sie sind früh«, sagte er und klang ein wenig verärgert. Es
war erst kurz nach acht. »Es ist Sonntag.« Das bedeutete, dass
ich ihn aus dem Bett gerissen hatte, ohne Zweifel.
Ich erzählte ihm, dass ich schon ein paar Stunden auf den
Beinen war. Es bringt ein besonderes Gefühl von Tugendhaftigkeit mit sich, jemandem zu erzählen, dass man schon
gearbeitet hat, während er noch in aller Seelenruhe tief und
fest geschlafen hat.
»Außerdem«, fuhr ich fort, »hab ich gestern Abend schon
mal angerufen, aber da war Ihr Anrufbeantworter eingeschaltet. Ich konnte keine Nachricht hinterlassen. Ich hab
nicht von meinem Telefon aus angerufen.«
»Ich habe trotzdem ein Privatleben, wissen Sie?«, entgegnete er.
»Ich dachte auch, ich hätte eins, bevor Sie aufgetaucht
sind«, schnappte ich bissig.
Er gab ein Geräusch von sich, das wie ein Gähnen klang.
»Bedeutet Ihr Anruf, dass Sie sich mit Eva treffen werden?«,
fragte er.
»Ich denke darüber nach, ja«, antwortete ich, unwillig,
ein lautes Eingeständnis abzugeben trotz der Tatsache, dass
ich meinen Entschluss bereits gefasst hatte und dass Ganesh,
noch während wir telefonierten, sich bemühte, den Wagen
seines Freundes Dilip auszuleihen.
»Gut«, sagte Clarence. »Ich bin froh, dass Sie sich dazu
entschlossen haben.«
Das ärgerte mich. Es war nicht das, was ich gesagt hatte.
Es war das, was ich gemeint hatte, und er hatte es bemerkt.
Er nannte mir die Adresse und die Telefonnummer der
Sterbeklinik. Er klang irgendwie ziemlich kurz angebunden,
was mich ein wenig überraschte. Aber vielleicht hatte er ja
noch einen anderen Fall, an dem er arbeiten musste, und
vielleicht hatte er jetzt, nachdem er diesen hier erfolgreich
abgeschlossen hatte, bereits das Interesse verloren.
Oder – wahrscheinlicher – er wartete ungeduldig darauf,
dass er sich wieder hinlegen konnte.
Als ich aufgelegt hatte, kam mir in den Sinn, dass er auf eine sehr vertrauliche Weise über meine Mutter – seine Klientin – gesprochen hatte. Nicht Mrs Varady oder wie auch immer sie heute heißen mochte. Nur Eva. Doch es war zu spät,
ihn jetzt darüber zu befragen. Es gab noch eine ganze Reihe
weiterer Fragen, die ich ihm hätte stellen sollen und nicht
gestellt hatte. Es gibt nichts Schlimmeres, als sich absolut
unwissend und ahnungslos in eine unerwartete, beängstigende Situation zu begeben.
Die Sterbeklinik befand sich in Egham. Ich hatte nicht erwartet, dass sie außerhalb Londons liegen würde. Aber
wahrscheinlich ist es ein klein wenig tröstlich, seine letzten
Tage im hübschen, sicheren Surrey zu verbringen und nicht
in der lauten, lärmenden, stinkenden und trüben Großstadt.
»Wir brauchen wahrscheinlich den halben Nachmittag,
nur um hinzukommen und die Klinik zu finden«, sagte ich
zu Ganesh.
Er sagte, dass ich mir deswegen keine Sorgen machen solle; selbst mit Dilips Wagen wäre es einfach zu schaffen. Ich
beschloss, nicht vorher dort anzurufen. Ich hatte irgendwie
Angst, sie könnten mich zu meiner Mutter durchstellen,
und ich war noch nicht bereit dazu. Ich war eigentlich überhaupt nicht bereit für ein
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