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Granger Ann - Varady - 04

Titel: Granger Ann - Varady - 04 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dass sie stets Boses muss gebaren
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auszulegen.
Ich war mit meinen Gedanken allein. Es war leicht für
Ganesh, den gemäßigten Standpunkt einzunehmen. Außerdem empfand ich es als ein klein wenig scheinheilig. Ich
fragte mich, ob irgendjemand in seiner Familie einer weggelaufenen Ehefrau und Mutter verzeihen würde. Andererseits
ging es hier nicht um seine Verwandten, sondern um mich.
Und er redete nicht von seinen Verwandten, sondern von
mir. So nah ich Gan in mancherlei Hinsicht sein mag, so
gibt es zwischen uns doch immer diesen Graben, den wir
irgendwie nie zu überbrücken verstehen. Ich spüre ihn
mehr als Gan. Wir kommen ganz wunderbar miteinander
aus, doch hin und wieder überraschen wir uns gegenseitig
mit vollkommen unvereinbaren Standpunkten.
Wie dem auch sei, es war leicht für jemanden wie Clarence Duke, seine Nachricht abzuliefern. Dafür war er schließ
lich auch bezahlt worden. Ich wusste nicht, wie er mich gefunden hatte. Ich hatte ihn nicht gefragt, weil ich nicht mehr
hatte wissen wollen. Doch trotz seines äußerlich abgerissenen Zustands schien er ein guter Detektiv zu sein. Er hatte
seine Aufgabe erfüllt und wartete nun auf meine Antwort,
um sie seiner Klientin zu überbringen, namentlich meiner
Mutter. Ich unternahm einen letzten Versuch, mir einzureden, dass er gelogen hatte und dass sie in Wirklichkeit nicht
in einer Sterbeklinik lag. Doch ich wusste, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Die schlimmsten Neuigkeiten sind stets die
wahren. Es erschien mir grausam, wenn ich mich weigerte,
sie zu besuchen. Doch was konnte sie von mir wollen? Sich
entschuldigen? Mich um Vergebung bitten, bevor sie starb?
Trotz allem, was Ganesh gesagt hatte, und – zugegeben –
trotz allem, was ich hier schreibe: Wie entschuldigt man sich
für die Angst und die Verzweiflung, die man in einem sieben Jahre alten Kind hinterlässt, wenn man einfach weggeht?
Ich bemühte mich, mildernde Umstände zu finden, irgendeine Entschuldigung für ihr Verhalten mir gegenüber.
Sie hatte gewusst, dass es mir bei Dad und Großmutter Varady gut gehen würde. Es war nicht so, als hätte sie mich der
Gnade des Jugendamts ausgeliefert. Doch ich erinnerte
mich auch, wie am Boden zerstört Dad nach ihrem schäbigen Verschwinden gewesen war. Ich konnte ihn vor meinem
geistigen Auge sehen, wie er mit dem Kopf in den Händen
am Küchentisch gesessen hatte. Äußerlich war er darüber
hinweggekommen, wie es oftmals den Anschein hat, wie es
auch bei mir der Fall gewesen war. Doch der Schmerz verschwand niemals aus unseren Herzen. Wir redeten nie miteinander darüber, doch wir wussten es beide. Es war, als
teilten wir ein Geheimnis.
Manchmal redete Großmutter über sie – im Allgemeinen
dann, wenn sie mich zurechtwies, weil ich etwas angestellt
hatte. »Was soll man schon von einem Kind erwarten, das
von seiner Mutter verlassen wurde? Was ist das nur für eine
Frau, die ihr eigen Fleisch und Blut im Stich lässt? Ah, mein
armes, kleines Ding …« All das sagte sie von ihrem Stuhl
aus, während sie mir den Kopf tätschelte und hin und her
schwankte, als würde sie im nächsten Augenblick tot zu Boden fallen. Dann packte sie meinen Kopf, zog ihn zu sich
heran, riss ihn mir beinahe vom Hals und küsste mich herzlich.
Anschließend wurde ich mit Gulasch und süßem Gebäck
voll gestopft, wie als Wiedergutmachung. Großmutter war
eine überzeugte Anhängerin der Theorie, dass Kalorien jedes Problem zu lösen vermochten.
Ich hatte es im Leben bisher nicht zu viel gebracht, wie
Ganesh nicht müde wurde zu erwähnen, doch ich hielt mich
für einigermaßen an meine äußeren Umstände angepasst.
Ich wusste, wer ich war und wo ich stand und was das Leben
mir vielleicht noch bieten würde und was nicht. Ich hatte
eine Art inneres Gleichgewicht gefunden, trotz allem. Und
jetzt sollte ich dieses Gleichgewicht aufs Spiel setzen? Alles
aufs Spiel setzen? Wofür? Um eine Frau zu besuchen, die
praktisch drei Leben in den Sand gesetzt hatte?
Hari kehrte aus seinem Büro zurück und setzte sich zu
uns, um seine Zeitung zu lesen. Ganesh rührte sich und erwachte aus seinem Schlummer.
»Das ist ja ganz schrecklich …«, sagte Onkel Hari hinter
seiner Zeitung.
»Ja, das ist es«, antwortete ich.
»Ich frage mich nur, was die Polizei deswegen zu unternehmen gedenkt!«
»Im Allgemeinen«, entgegnete ich mürrisch, »im Allgemeinen ist die Polizei doch nur dazu da, Leuten das Leben
schwerer zu machen, die es ohnehin schon schwer haben.«
»Die arme Frau hier …«, sagte der hinter der

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