Granger Ann - Varady - 04
nicht alle Tassen im Schrank hätte, früher nicht und auch nicht heute«,
unterbrach ich ihn wütend. Niemand außer Flora Wilde, die
nicht gerade das war, was man einen unparteiischen Beobachter nennen konnte.
»Es gibt unterschiedliche Ausprägungen von ›nicht alle
Tassen im Schrank‹, wie Sie es nennen«, sagte er im Tonfall
eines Anwalts. »Eva Varady hatte ein Baby. Es starb. Das allein reicht aus, um eine normale Frau aus dem Gleichgewicht zu bringen. Mrs Wilde lag zum damaligen Zeitpunkt
im gleichen Hospital. Irgendwie hat Eva es sich offensichtlich in den Kopf gesetzt, dass die Babys vertauscht worden
waren. Seither hat sie die Wildes verfolgt.«
Also hatte er vor, Floras Geschichte zu wiederholen. Sie
schien ihm genau das erzählt zu haben, was sie mir gesagt
hatte.
»Das sagen Sie!«, entgegnete ich ärgerlich. »Nun, falls irgendjemand nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, dann
ist es meiner Meinung nach Flora Wilde!«
Er lief rot an. »Hören Sie, Miss Varady. Sie müssen aufhören damit. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, was ich Ihnen
gesagt habe, entspricht der Wahrheit. Deswegen müssen Sie
aufhören mit Ihren Nachforschungen und dem, was Eva
Varady von Ihnen erbeten hat. Eva ist verrückt. Sie war es
schon immer. Wollen Sie wirklich das Glück einer Familie
zerstören und Nicolas Leben ruinieren, und alles nur wegen
der Anwandlungen einer sterbenden Frau, die schon immer
nicht mehr ganz bei Trost war?«
»Ich habe nicht vor, Nicolas Leben zu ruinieren!«, entgegnete ich und sah ihm fest in die Augen. »Sie ist meine
Schwester, oder? Warum sollte ich ihr irgendwelchen Schaden zufügen wollen?«
Er zuckte zusammen. »Sie ist nicht Ihre Schwester! Wie
oft soll ich Ihnen das noch sagen? Geht das nicht in Ihren
Kopf, oder sind Sie nicht ganz bei Sinnen, genau wie Ihre
Mutter?«
»Möchten Sie, dass ich Ihnen die Nase einschlage?«,
schnaubte ich. Ich hatte genug von diesem Kerl. Ich war inzwischen richtig wütend.
»Schon gut, schon gut!« Er hob abwehrend die Hände.
»Vielleicht hätte ich das nicht sagen sollen. Aber Sie machen
es unnötig schwer, wissen Sie? Es ist so wichtig, und Sie verhalten sich, wenn ich das sagen darf, unverantwortlich. Sehen Sie das denn nicht?«
Ich sah ein, dass er in gewisser Hinsicht Recht hatte. Was
ich tat, konnte man mir tatsächlich als unverantwortlich
auslegen. Was mir jedoch nicht gelang, war, es meiner Mutter begreiflich zu machen. Er bemerkte meine Unentschlossenheit – wahrscheinlich, weil ich ihm keine schnippische
Antwort gegeben hatte.
»Die Wildes haben mich gebeten, mit Ihnen zu reden und
Sie zu bitten, nicht wieder zu ihrem Haus zu kommen oder
zu versuchen, mit Nicola direkt in Kontakt zu treten. Darf ich
ihnen sagen, dass Sie sich einverstanden erklärt haben?«
Als ich immer noch nicht antwortete, drängte er weiter.
»Miss Varady?« Aufsteigender Ärger schwang in seiner
Stimme mit. Er konnte sich nicht mehr sehr viel länger unter Kontrolle halten. Ich war froh, dass wir uns in einem öffentlichen Park bewegten. Er war ein sehr impulsiver Mann,
und ich verspürte keine Lust, mich mit ihm zu prügeln,
trotz meiner kämpferischen Worte.
»Ich mag es nicht, Miss Varady genannt zu werden«, sagte ich schließlich. »Für gewöhnlich nennen die Leute mich
Fran.«
»Also schön, meinetwegen – Fran«, setzte er an.
Ich unterbrach ihn sogleich. »Und wie heißen Sie?«
»Mein Name? Oh, Sie meinen meinen Vornamen, ich
verstehe. Ich … ich …« Er zögerte.
»Machen Sie sich keine Mühe«, sagte ich zu ihm. »Ich
kenne Ihren Vornamen. Und den Nachnamen ebenfalls. Sie
sind Jerry. Jerry Wilde.«
Ich dachte, er würde es abstreiten. Ich meinte zu sehen,
dass er es vorhatte. Doch dann zuckte er die Schultern. »Also schön, ich bin Jerry Wilde. Ich dachte, es wäre besser,
wenn ich mich unter einem anderen Namen vorstelle, aber
ich schätze, Sie mussten es irgendwann erraten.«
Wir waren um eine Biegung spaziert und befanden uns
nun auf der Rückseite des Gebäudes, wo eine breite Treppe
von einer Terrasse mit einer Balustrade hinabführte. Ich
lehnte mich an die Balustrade und starrte hinauf auf das
ebenso faszinierende wie verrückte Gebäude vor mir. Der
Architekt schien richtiggehend Amok gelaufen zu sein.
»Wessen Idee war das wohl?«, fragte ich.
»Was meinen Sie? Mich als Jackson vorzustellen? Meine
eigene.«
»Nein«, widersprach ich. »Ich meinte, wessen Idee es war,
so ein Haus zu bauen.«
Er blickte gleichgültig zu dem Bau hinauf.
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