Grant County 05 - Gottlos
seiner Schwester bei sich aufnahm –, sah er uralt aus. Das Leben, das er geführt hatte, hatte genauso tiefe Spuren in seinem Gesicht hinterlassen wie die Nadeln in seinen Armen. In seinen eisblauen Augen sah sie den Zorn hinter seiner Fürsorge. Hank war immer voller Zorn gewesen, und manchmal, wenn sie ihn ansah, erkannte Lena ihre eigene Zukunft in seinem gezeichneten Gesicht.
Die Fahrt nach Atlanta war schweigsam verlaufen. Sie hatten einander nie viel zu sagen, doch diesmal hatte die Stille schwer auf Lena gelastet. Sie hatte darauf bestanden, allein in die Klinik zu gehen, aber als sie schließlich das Gebäude betrat, in dem grelle Neonröhren vorwurfsvoll auf sie herunterbrannten, hatte sie sich gewünscht, er wäre an ihrer Seite.
Außer ihr saß noch eine andere Frau im Wartezimmer. Sie war furchtbar dünn, hatte blondes, fast mausgraues Haar und konnte die Hände nicht still halten. Sie wich Lenas Blick fast ebenso konsequent aus wie Lena ihrem. Obwohl sie ein paar Jahre jünger als Lena sein musste, trug sie das Haar in einem strengen Knoten, wie eine alte Frau. Lena fragte sich unwillkürlich, wie sie hier gelandet sein mochte – war sie eine College-Studentin, in deren sorgfältig geplantem Leben eine Schwierigkeit aufgetaucht war? Ein harmloser Flirt, mit dem sie auf einer Party zu weit gegangen war? Ein betrunkener Onkel, dessen Zuneigung sie zum Opfer gefallen war?
Lena fragte sie nicht danach – weder brachte sie den Mutdazu auf, noch wollte sie selbst diese Frage beantworten. Und so saßen sich die beiden Frauen fast eine Stunde lang schweigend gegenüber, als wären sie zwei Gefangene, die auf ihr Todesurteil warteten, überwältigt von der Schwere ihrer Schuld. Lena war beinahe erleichtert, als man sie in den OP führte, und noch viel erleichterter, als sie Hank sah, der auf dem Parkplatz draußen darauf wartete, dass man sie in einem Rollstuhl zu ihm brachte. Er musste die ganze Zeit unruhig vor dem Auto auf und ab gegangen sein und eine Zigarette an der anderen angezündet haben. Der Asphalt lag voller brauner Kippen, die er bis zum Filter geraucht hatte.
Er hatte sie in das Hotel in der Tenth Street gebracht, denn sie mussten eine Nacht in Atlanta bleiben, falls es Probleme geben sollte. Reese, wo Lena aufgewachsen war und Hank immer noch lebte, war eine Kleinstadt, in der die Leute nichts Besseres zu tun hatten, als sich über die Nachbarn das Maul zu zerreißen. Ohnehin trauten beide dem Landarzt von Reese nicht zu, dass er Lena im Notfall helfen würde. Er stellte noch nicht mal Rezepte für die Pille aus, und die Lokalzeitung zitierte des Öfteren seine Äußerungen über die halbstarken Jugendlichen der Stadt. Er war der Ansicht, dass das ganze Problem darin bestand, dass die Frauen arbeiten gingen, anstatt zu Hause zu bleiben und ihre Kinder gottesfürchtig zu erziehen.
Das Hotelzimmer, eine Art Minisuite mit Sofaecke, war schöner als alle, die Lena bisher von innen gesehen hatte. Hank machte es sich auf der Couch gemütlich, sah bei gedämpfter Lautstärke fern, rief den Zimmerservice, wenn Lena etwas brauchte, und verließ seinen Posten nicht einmal, um eine rauchen zu gehen. Sein leises Schnarchen während der Nacht störte und tröstete sie zugleich.
Lena hatte Ethan erzählt, sie wäre in einem Trainingscamp des Georgia Bureau of Investigation, weil Jeffrey sie zu einem Kurs über Spurensicherung am Tatort angemeldet hätte. Nan,ihrer Mitbewohnerin, hatte sie gesagt, sie wäre bei Hank, um mit ihm ein paar von Sibyls Sachen durchzugehen. Im Nachhinein bereute sie, dass sie nicht beiden die gleiche Lüge erzählt hatte, sie wusste, dass es einfacher gewesen wäre. Aber Nan anzulügen hatte sie ganz nervös gemacht. Nan und ihre Schwester waren ein Liebespaar gewesen und hatten zusammengelebt. Seit Sibyls Tod versuchte Nan, Lena unter ihre Fittiche zu nehmen, ein magerer Ersatz für ihre Schwester, aber Nan bemühte sich sehr um sie. Lena wusste selbst nicht, warum sie es nicht übers Herz brachte, ihr den wahren Grund für die Reise zu gestehen.
Nan war lesbisch, und nach der Post zu urteilen, die sie erhielt, vermutlich auch so etwas wie eine Feministin. Es wäre viel leichter gewesen, in Nans Begleitung in die Klinik zu fahren, als Hanks stille Vorwürfe zu ertragen; sie hätte Lena moralisch unterstützt. Wahrscheinlich hätte Nan den Demonstranten vor der Klinik die Faust gezeigt. Sie standen am Zaun und schrien «Kindsmörderin» und «Sünderin», als die
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