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Grant County 05 - Gottlos

Grant County 05 - Gottlos

Titel: Grant County 05 - Gottlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
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hatte sie nicht mehr unter Kontrolle. Von dem Moment an, als sie die Klinik in Atlanta verlassen hatte, über die Nacht im Hotel bis zu ihrer Rückkehr ins Haus ihres Onkels hatte sie an nichts anderes denken können als an das, was sie getan hatte, und an all die Fehler, die sie gemacht hatte, um an diesen Punkt zu gelangen.
    Jetzt lag sie im Bett und starrte aus dem Fenster in den trostlosen kleinen Garten hinter dem Haus. Seit Lenas Kindheit hatte Hank nichts mehr am Haus gemacht. An der Decke in ihrem Zimmer war immer noch der braune Wasserfleck, wo einmal im Sturm ein Ast das Dach beschädigt hatte. Die Farbe blätterte von den Wänden, wo Hank die falsche Grundierung benutzt hatte, und die Tapeten waren so nikotingetränkt, dass alle Wände die gleiche gelbbraune Tönung angenommen hatten.
    Hier waren Lena und ihre Zwillingsschwester Sibyl aufgewachsen. Ihre Mutter war bei der Geburt gestorben, ihr Vater Calvin Adams war ein paar Monate zuvor bei einer Fahrzeugkontrolleerschossen worden. Und vor drei Jahren war Sibyl ermordet worden. Wieder ein Verlust, wieder war Lena im Stich gelassen worden. Vielleicht war ihre Schwester der letzte Anker in ihrem Leben gewesen. Jetzt fühlte sie sich völlig verloren. Sie traf eine falsche Entscheidung nach der anderen und machte sich nicht einmal mehr die Mühe, die Dinge wieder zurechtzubiegen. Sie versuchte, mit den Folgen ihrer Taten zu leben. Vermutlich traf «überleben» es besser.
    Lena betastete ihren Bauch, in dem bis vor knapp einer Woche noch ein Baby gewachsen war. Sie allein musste mit den Folgen leben. Sie allein hatte überlebt. Hätte das Kind wie sie den dunklen Teint ihrer mexikanischen Großmutter geerbt oder die stahlgrauen Augen und die helle Haut seines Vaters?
    Lena stützte sich auf, schob die Finger in die Gesäßtasche ihrer Jeans und nahm das lange Taschenmesser heraus. Vorsichtig klappte sie die Klinge auf. Die Spitze war abgebrochen, und in einem Halbkreis getrockneten Bluts war Ethans Fingerabdruck.
    Sie betrachtete ihren Arm, den dunklen Fleck, wo Ethan sie gepackt hatte, und fragte sich, wie die gleiche Hand, die das Messer gehalten hatte, die ihr so viel Schmerzen bereitet hatte, so zärtlich sein konnte, wenn sie ihren Körper liebkoste.
    Die Polizistin in ihr wusste, dass sie ihn verhaften sollte. Die Frau in ihr wusste, dass er böse war. Die Realistin in ihr wusste, dass er sie eines Tages zu Tode prügeln würde. Doch eine andere, unbekannte Seite in Lena widersetzte sich ihrem Verstand, und sie hielt sich selbst für den schlimmsten aller Feiglinge. Sie war nicht anders als die Frau, die mit Steinen nach dem Streifenwagen warf. Sie war wie der Nachbar mit dem Messer. Sie verhielt sich wie das verstörte Kind, das sich an seinen Vergewaltiger klammerte. Sie war es, die fast erstickte an dem, was sie täglich über sich ergehen ließ und herunterschluckte.
    Es klopfte an der Tür. «Lee?»
    Hastig klappte sie das Messer zu und setzte sich auf. Als ihrOnkel die Tür aufmachte, hielt sie sich den Bauch. Sie hatte das Gefühl, etwas in ihr war zerbrochen.
    Hank trat zu ihr ans Bett und streckte die Hand nach ihrer Schulter aus, ohne sie wirklich zu berühren. «Alles in Ordnung?»
    «Hab mich nur zu schnell aufgesetzt.»
    Er ließ die Hand sinken und steckte sie in die Hosentasche. «Hast du Hunger?»
    Sie nickte, die Lippen leicht geöffnet, damit sie Luft bekam.
    «Brauchst du Hilfe beim Aufstehen?»
    «Es ist jetzt eine Woche her», wehrte sie ab, als würde das seine Frage beantworten. Man hatte ihr gesagt, sie würde schon zwei Tage nach dem Eingriff wieder arbeiten können, doch Lena war unbegreiflich, wie andere Frauen das schafften. Sie war seit zwölf Jahren bei der Polizei von Grant County, und es war das erste Mal, dass sie Urlaub nahm. Die Ironie darin war zu bitter, als dass sie darüber hätte lachen können.
    «Ich habe uns Mittagessen mitgebracht», sagte Hank. Lena erkannte an seinem frischgebügelten Hawaiihemd und den weißen Jeans, dass er den Vormittag in der Kirche verbracht hatte. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war nach zwölf. Sie hatte fünfzehn Stunden geschlafen.
    Hank stand da, die Hände in den Hosentaschen, als wartete er auf etwas.
    «Ich komme gleich», sagte sie.
    «Brauchst du irgendwas?»
    «Was denn, Hank?»
    Er presste die Lippen zusammen und kratzte sich an den Armen, als würden sie jucken. Die Narben der Einstiche, die seine Arme verunstalteten, waren selbst nach so vielen Jahren noch deutlich

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