Grant County 05 - Gottlos
zu sehen, und sie hasste ihren Anblick. Vor allem hasste sie es, weil es Hank egal zu sein schien, dass seine Narben Lena an all die Dinge erinnerten, die zwischen ihnen standen.
«Ich mache dir einen Teller fertig.»
«Danke», brachte sie heraus und schob die Beine über die Bettkante. Sie stellte die Füße auf den Boden und versuchte, sich darauf zu konzentrieren, wo sie war, hier in diesem Zimmer. Die letzte Woche war sie in Gedanken woanders gewesen, an besseren, sichereren Orten. Sibyl war noch nicht tot. Ethan Green war noch nicht in ihr Leben getreten. Alles war leichter.
Sie hätte gerne ein langes heißes Bad genommen, aber damit musste Lena noch eine Woche warten. Doppelt so lange durfte sie keinen Sex haben, und jedes Mal, wenn sie versuchte, sich eine Ausrede für Ethan auszudenken, kam sie zu dem Ergebnis, dass es leichter wäre, ihn einfach machen zu lassen. Was auch passierte, sie allein war dafür verantwortlich. Irgendwie würde sie bestraft werden für die Lüge, die ihr Leben war.
Lena duschte kurz, um wach zu werden. Sie achtete darauf, dass ihr Haar nicht nass wurde, allein der Gedanke, einen Föhn halten zu müssen, strengte sie an. Sie war träge geworden, während sie hier herumsaß und aus dem Fenster starrte, als bestünde die Welt aus nichts anderem als dem zugemüllten Garten mit der verlassenen Schaukel und dem 1959er Cadillac, der schon vor ihrer und Sybils Geburt aufgebockt worden war. Und vielleicht stimmte das sogar. Hank hatte mehr als einmal angeboten, dass sie wieder bei ihm einziehen könnte, und es klang so verlockend einfach, dass sie sich von seinem Angebot hatte hin und her wiegen lassen wie von einer Meeresströmung. Wenn sie nicht bald in ihr eigenes Leben zurückkehrte, würde sie für immer davontreiben. Sie würde nie wieder festen Boden unter den Füßen spüren.
Hank war gegen die Abtreibung gewesen, doch, und das war ihm hoch anzurechnen, er hatte ihre Entscheidung respektiert. Über die Jahre hatte er so einiges für Lena getan, von dem er selbst nicht viel hielt – sei es aus religiösen Gründen oder weil er so verdammt dickköpfig war –, und erst jetzt wurde ihr langsamklar, wie selbstlos er handelte. Nicht dass sie ihm jemals sagen könnte, wie dankbar sie ihm dafür war. Auch wenn Hank Norton eine der wenigen Konstanten in ihrem Leben war, wusste Lena, dass sie umgekehrt das Einzige war, an dem er noch festhielt. Wäre sie weniger egoistisch veranlagt, hätte ihr der alte Mann leidgetan.
Die Küche war gleich neben dem Bad, und Lena zog sich den Bademantel über, bevor sie die Tür öffnete. Hank stand an der Spüle und entfernte die Haut von einem Brathähnchen. Tüten von Kentucky Fried Chicken waren über die Arbeitsplatte verstreut, und ein Pappteller mit Kartoffelbrei, Krautsalat und Brötchen stand schon bereit.
«Ich wusste nicht, welches Stück du willst.»
Als Lena die glibberige Soße auf dem Kartoffelbrei sah und die Mayonnaise am Krautsalat roch, zog sich ihr Magen zusammen. Allein bei dem Gedanken an Essen wurde ihr übel. Der Anblick und der Geruch gaben ihr den Rest.
Hank legte den Hähnchenschenkel beiseite und streckte die Arme aus, als müsse er sie auffangen. «Setz dich erst mal hin.»
Ausnahmsweise tat sie, was ihr gesagt wurde, und sank auf einen der wackeligen Küchenstühle. Der Tisch verschwand unter einem Haufen Broschüren – Hank war süchtig nach AA- und N A-Meetings –, aber er hatte ihr zum Essen eine Ecke freigeräumt. Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und ließ den Kopf in die Hände sinken. Ihr war schwindelig, vor allem aber fühlte sie sich fehl am Platz.
Als Hank ihr über den Rücken strich, blieben seine schwieligen Hände am Stoff ihres Bademantels hängen. Lena knirschte mit den Zähnen. Sie wünschte, er würde sie nicht anfassen, doch sie hatte keine Lust auf sein beleidigtes Gesicht, wenn sie zurückwich.
Er räusperte sich. «Soll ich den Arzt rufen?»
«Es geht schon.»
«Du hattest schon immer einen empfindlichen Magen.»
«Es geht schon», wiederholte sie abwesend. Sie wollte nicht daran erinnert werden, dass er ihr während ihrer Kindheit praktisch in jeder Lebenslage beigestanden hatte.
Er nahm einen zweiten Stuhl und setzte sich ihr gegenüber. Lena spürte, dass er wartete, bis sie ihn ansah, aber sie ließ sich Zeit, bis sie ihm den Gefallen tat. Als Kind war Hank ihr alt vorgekommen. Heute, da sie selbst vierunddreißig war – so alt wie Hank damals, als er die Zwillingstöchter
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