Grappa 02 - Grappas Treibjagd
hatte die Vokabeln gelernt. Doch darüber zu reden, bedeutet für diese Kinder nicht, dass sie das Erlebte verarbeitet haben – irgendwo hatte ich das in Lauras Büchern gelesen.
»Bist du böse auf deinen Papa?«
Sie überlegte. »Ja, ich bin sehr böse auf ihn. Er ist schuld, dass ich hier bin.«
»Gefällt es dir nicht in dem Heim?«
Sie schüttelte den Kopf, und Tränen traten in ihre Augen. »Nein, ich will hier weg. Laura hat gesagt, dass ich neue Eltern bekomme. Warum kommt Laura nicht mehr? Sie hat mich immer besucht, und nun kommt sie nicht mehr!« Das Kind schluchzte.
Mein Gott, wie sollte ich ihr erklären, was passiert war? Sollte ich es überhaupt sagen? Ich war hilflos. Dann entschied ich mich dafür, das Kind nicht für dumm zu verkaufen. Beate hatte so viel üble Realitäten in ihrem zehnjährigen Leben mitbekommen, dass sie vielleicht reifer war als andere Kinder in ihrem Alter.
Leider hatte ich nicht die blasseste Ahnung, wie reif Zehnjährige normalerweise sind. Ich wollte es mit der Wahrheit versuchen.
»Möchtest du mal etwas näher zu mir kommen?«, fragte ich. Sie stand tatsächlich auf und stellte sich vor mich.
»Na komm, setz dich mal auf meinen Schoß, auch wenn du mir schon fast zu groß bist …«
Sie rutschte auf meine Schenkel und legte die Arme um meinen Hals. Ich strich ihr dunkles Haar zurück.
»Hör zu, Beate. Ich bin Lauras beste Freundin. Sie hat mir viel von dir erzählt. Laura kann dich nicht mehr besuchen, denn Laura ist tot. Jemand hat sie umgebracht, und die Polizei weiß nicht, wer es war.«
Ich machte eine Pause und beobachtete das Kind. Beate nahm die Information scheinbar ungerührt zur Kenntnis.
»Ich hatte mal eine kleine Katze«, erinnerte sie sich, »Papa hat sie solange am Hals gepackt, bis sie tot war. Ich habe sie dann in die Erde eingegraben. Ist Laura auch in die Erde eingegraben worden?«
Ich nickte. »Ja, Laura ist in der Erde. Zusammen mit vielen schönen Blumen, die ihre Freunde reingeworfen haben.«
»Kommst du mich jetzt immer besuchen?«
»Ich werde dich besuchen, ich verspreche es dir. Auch wenn ich nicht so oft kommen kann wie Laura. Ich werde auch eine neue Familie für dich suchen. So wie Laura es dir versprochen hat.« Lieber Himmel, was versprach ich dem Kind? Ich musste verrückt geworden sein. Ich konnte mir doch nicht die Sorge um ein gestörtes Kind aufhalsen.
Sie nahm meine Versprechen ernst und wie selbstverständlich zur Kenntnis. »Wie heißt du noch mal?«
»Ich heiße Maria. Beate, darf ich dich noch was fragen?«
»Frag nur.«
»Dieser Onkel Herbert, der dich besucht hat und mit dem du … diese Dinge machen musstest. Weißt du noch, wie der ausgesehen hat?«
»Er war schon alt und hatte schwarze Haare und einen Bart …«
»Und sonst? War er dick oder dünn? Groß oder klein?«
»Er war groß und nicht dick. Er hatte ein Kleeblatt auf dem Bauch.«
»Ein Kleeblatt?«
»Ein schwarzes Kleeblatt, das nicht abging. Auf dem Bauch.«
»Wo genau auf dem Bauch?«
»Hier.« Sie zeigte in die rechte Lendengegend.
»War das draufgeklebt?«
»Nein … es war ein Zauberzeichen; das geht nicht ab, hat Onkel Herbert gesagt.«
»Sah es so ähnlich aus?« Ich deutete auf einen größeren Leberfleck auf meinem Oberarm. Sie nickte. »Onkel Herbert« hatte also ein Muttermal in Form eines Kleeblattes in unmittelbarer Nähe seines Tatwerkzeuges!
»Kannst du es aufmalen?«
Sie nickte ernst. Ich kramte einen Block und einen Bleistift aus der Tasche. Beate nahm den Stift, überlegte eine Weile und malte ein etwas schiefes vierblättriges Kleeblatt.
Ich zog das Foto von Ellenbogen aus der Tasche.
»Ist das Onkel Herbert? Sieht er so ähnlich aus?«
Das Kind betrachtete das Bild. Keine dunklen Haare und kein Bart. Beate schüttelte bestimmt den Kopf. »Nein, den Mann kenne ich nicht.«
Ich nahm ihr das Bild wieder ab, färbte mit einem dunklen Kugelschreiber die hellen Haare und malte dem Professor einen schwarzen Vollbart.
»Und jetzt? Sieht er jetzt aus wie Onkel Herbert?« Sie schüttelte stumm den Kopf. Ich musste aufhören.
»Das Kleeblatt hast du aber gut hingekriegt. Malst du gerne?«
»Ja, aber die anderen Kinder klauen mir meine Buntstifte.«
»Das nächste Mal bringe ich dir welche mit, einverstanden?«
»Du kommst wirklich wieder?«
»Natürlich komme ich wieder, ich hab's dir doch versprochen. Wir sind doch jetzt Freundinnen. Hör mal zu, ich muss dir noch was sagen. Bevor ich hierher kam, habe ich deine Mutter
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