Grappa 02 - Grappas Treibjagd
Universität Heidelberg.« Ich hoffte inständig, dass es in Heidelberg überhaupt eine psychologische Fakultät gäbe.
»Nein, der Name sagt mir nichts. Aber ich habe ja auch in Hamburg studiert. Was interessiert Sie an der kleinen Beate Bartusch?«
Ich versuchte, Betroffenheit und fachliche Kompetenz zu heucheln. »Nun, dieses Mädchen muss durch den jahrelang andauernden sexuellen Missbrauch psychische Fluchtwege realisiert haben, um zumindest einen Teil der eigenen Identität unversehrt zu erhalten. Das möchte ich ermitteln. In einer Reihe von anderen Fallstudien, die ich bereits abgeschlossen habe, gingen diese Fluchtwege weit hinein in den Bereich der psychoneurotischen Erkrankungen.« Ich hatte mich noch nie so geschwollen reden gehört und verstand kein Wort von meinem Geplapper.
Doch Frau Dr. Knittering fand meinen psychologischen Denkansatz völlig in Ordnung und sagte: »Wie interessant! Sie beschreiten ganz neue ungewöhnliche Wege! Ich hoffe, Sie schicken mir ein Exemplar Ihrer Dissertation, wenn Sie fertig sind. Wie lange werden Sie mit der Auswertung brauchen, Frau Kollegin?«
Bis Samstag, hätte ich fast gesagt, da kannst du meine Story im Bierstädter Tageblatt nachlesen!
»Ich muss noch viele Fallbeispiele auswerten, die Ergebnisse katalogisieren und vergleichende Analysen anfertigen. Professor Peter Jansen nimmt es sehr genau! Ich bin Ihnen ja so dankbar für Ihre Hilfe, denn nicht bei allen Kollegen, die praktisch arbeiten, gibt es dasselbe Verständnis für die Notwendigkeit der psychologischen Forschung.«
Sie lächelte geschmeichelt und zauselte an ihrem Chiffonschal. Das Lächeln stand ihr ausgesprochen gut. Ich hoffte, dass auch die ihr anvertrauten Kinder ab und zu damit »beschenkt« wurden. Als junge Frau war sie bestimmt mal hübsch gewesen in ihrer unnahbaren, etwas mageren Art. Ihr Parfum war so schwer, dass man sich dagegen lehnen konnte. Es duftete nach Maiglöckchen und chemischer Industrie.
Sie strahlte eine Kühle aus, die die Zimmertemperatur mindestens um ein Grad nach unten drückte. Bei diesem Wetter ja recht angenehm.
»Ich habe Beate darauf vorbereitet, dass sie Besuch bekommt. Kommen Sie!«
Sie führte mich in das Besucherzimmer, so stand auf einem Schild an der Tür, die sie öffnete. Ich trat hinter Frau Knittering ein. Ein langer Holztisch, ein altes schönes Möbel, davor unbequeme Stühle, deren Sitze mit verschlissenem Brokat bezogen waren. Am Tisch vor Kopf saß das kleine Mädchen und wartete. Völlig allein, wer weiß wie lange schon. Hingesetzt, um den Besuch einer Fremden zu erwarten. Ich fühlte den Blick des Kindes auf mir.
»Hätten Sie das Kind nicht in seinem Zimmer lassen können, bis ich da war?«, fragte ich etwas schärfer.
»Das Kind hat kein Zimmer, es wohnt mit 29 anderen Kindern in einem Saal«, gab sie verstimmt zurück, »außerdem ist es so üblich, dass hier der Besuch empfangen wird. Die Kinder wissen das und haben sich daran gewöhnt.«
Ihr Ton klang nach Kasernenhof und morgendlichem Appell.
»Hallo, Beate«, rief ich freundlich in den Raum und ging auf das kleine Mädchen zu. Ich hatte Angst, etwas falsch zu machen.
Frau Dr. Knittering machte noch keine Anstalten zu verschwinden. Hau ab, du Gefängniswärterin, fauchte ich innerlich.
»Ich lasse Sie beide jetzt allein«, meinte sie dann aber doch, »überfordern Sie das Kind nicht. Beate ist schließlich erst zehn Jahre alt und hat Schlimmes erlebt!«
Ich hörte die Tür zufallen. »Hast du lange auf mich gewartet?«, fragte ich.
»Es geht«, antwortete sie und musterte mich. Ich musterte zurück. Ein hübsches Mädchen. Dunkles Haar, ein spitzes Näschen, eine überraschend gesunde Gesichtsfarbe und kräftige Augenbrauen. Die Augen blickten offen und klar, vielleicht etwas abwesend. Der zarte Körper steckte in einem rot-blau karierten Kleidchen mit hochgezogener Taille, die Beine steckten in leuchtend weißen Kniestrümpfen. Sie baumelte mit den Beinen, wie es Kinder tun, die lieber rennen als sitzen.
»Wie heißen Sie?«, fragte sie mich.
»Entschuldige, ich hätte dir das längst sagen sollen. Ich bin Frau Grappa. Ich bin zu dir gekommen, um mit dir zu reden. Du weißt, warum du hier in diesem Heim bist?«
»Natürlich«, sagte sie, »ich bin hier, weil mein Papa mit mir etwas Böses getan hat, was die Polizei nicht erlaubt. Er hat mich gefickt und andere alte Männer auch.«
Ach du lieber Schwan! Ich konnte gar nicht glauben, was ich eben gehört hatte. Die Kleine
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