Grappa lässt die Puppen tanzen - Wollenhaupt, G: Grappa lässt die Puppen tanzen
wie Wohnungssuche und das Erlernen der deutschen Sprache. Also um alles, was er hier erlebt an Positivem, aber auch an Negativem.«
»Und wenn er tot überm Zaun hängt, kriegt Grappa die Story«, mischte sich Harras ein.
»Darauf bestehe ich«, grinste ich.
»Haben Sie sonst noch etwas zur täglichen Unterhaltung beizutragen, Frau Grappa?«, fragte Schnack ungnädig.
»Allerdings. Vernachlässigte bulgarische Kinder, Romak inder. Das Jugendamt befreit jede Woche mehrere von ihnen aus den vermüllten Häusern im Norden. Die Stadt hat an den Grundschulen Auffangklassen für die schulpflichtigen Kinder eingerichtet. Ich würde gern mehrere Reportagen über diese armen Kinder machen. Das wäre dann ein weiterer Meilenstein auf unserem Weg zur Familienzeitung und würde das Profil unseres sozialen Engagements schärfen.«
Schnack nickte. »Einverstanden!«
Er konnte sich nicht gegen Homophobie aussprechen und gleichzeitig meinen Vorschlag aus xenophoben Gründen ablehnen.
Wayne zog kurz den Mundwinkel hoch und sagte dann: »Ich möchte die Recherchen mit der Kamera begleiten. Frau Grappa und ich sind ein eingespieltes Team.«
»Das ist mir bekannt«, meinte Schnack. »Und Ihre Idee gefällt mir. Aber nur, wenn Ihnen noch Zeit für die aktuelle Berichterstattung bleibt, Frau Grappa.«
Ich versicherte ihm, dass das kein Problem sei.
»Und was ist mit meinem Ballett-Tänzer?«, brachte sich Wurbel-Simonis in Erinnerung.
»Keine Langzeitbeobachtung des Tänzers«, entschied Schnack. »Vernachlässigte Zigeunerkinder aus Bulgarien bedienen die Emotionen unserer Leser wesentlich stärker als das Porträt eines klassischen Tänzers aus der Ukraine. Sie können den Vorschlag ja in einem Jahr noch einmal machen, Frau Dr. Wurbel-Simonis. Dann hat der junge Mann bestimmt noch mehr zu erzählen als jetzt.«
Das Gift in Wurbelchens Blick machte keinen Eindruck auf mich.
Am Nachmittag erhielt ich eine neue Pressemitteilung von Polizei und Staatsanwaltschaft zum Fall der Frauenleiche neben dem Straßenstrich. Es gab detailliertere Angaben zur Todesursache, denn die Obduktion war inzwischen abgeschlossen. Aber noch immer war die Tote nicht identifiziert. Der Verdacht, dass es sich um eine Romafrau handelte, hatte sich jedoch bestätigt. Die Pathologen hatten auf der Schulter der jungen Frau eine Tätowierung entdeckt: Me tut kamaf, Timocin.
Die Übersetzung bedeutet: Ich liebe dich, Timocin. Nach Auskunft eines Dolmetschers handelt es sich um den Dialekt bulgarischer Roma. Timocin ist ein männlicher Vorname.
In der Pressemitteilung hieß es weiter:
Die Frau ist schwer misshandelt und mehrfach sexuell missbraucht worden. DNA-Material von mindestens fünf unterschiedlichen Männern wurde sichergestellt – sowohl im Genitalbereich als auch im Magen und unter den Fingernägeln. Es wurden weiterhin Fesselspuren an Armen und Beinen und innere Verletzungen festgestellt. Todesursächlich waren zwanzig mit großer Wucht ausgeführte Messerstiche.
Die Frau hat ein oder mehrere Kinder geboren. Ihre Identität ist nicht geklärt. Es werden dringend Zeugen und Menschen gesucht, die Angaben zur Person der Frau und ggf. ihres Kindes machen können. Die Unbekannte war zwischen 20 und 30 Jahre alt, 1,68 m groß und schlank.
Für die Ausgabe am nächsten Tag schrieb ich eine kleine Notiz über die Tätowierung. Für zartbesaitete Seelen waren die Einzelheiten zu heftig. Und den anderen wollte ich keine Gelegenheit geben, ihren kranken Fantasien nachzuhängen.
Mobby mag Grappa
Der Norden begann hinter dem Hauptbahnhof. Drei vierspurige Straßen führten direkt in die Viertel, die noch vor dreißig Jahren wegen heruntergekommener Bauten, viel schmutzerzeugender Industrie und eines hohen Ausländeranteils verrufen waren.
Die Stadt hatte eine Menge getan – durch ein Nordstadtkonzept, millionenschwere Investitionen und konsequente Sozialarbeit. Natürlich war der Norden noch immer nicht mit der kuscheligen Gartenstadt, dem bei Intellektuellen beliebten Kreuzviertel oder dem grünen Süden der Stadt zu vergleichen. Die Problemviertel mit ihren Problemmenschen existierten weiterhin. Und die Problemmenschen waren keineswegs nur Ausländer.
Es war fast Abend geworden. Ein schöner Sommertag ging langsam zu Ende.
»Hier ist es wie im Süden«, behauptete Wayne. »Ich liebe diese Atmosphäre. Schau dir diese Lebensfreude an.«
Ich schaute, sah aber nur Kebabbuden, türkische Caféhäuser, in die Frauen nicht hineindurften, Internetshops,
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