Grappa und die keusche Braut
Sello. »Natürlich hat er versucht, cool zu wirken. Aber wie Sie ja selbst gesehen haben, hat er keineswegs einen Amoklauf angekündigt. Auch wenn die Polizei das jetzt so deutet. Patrick hat sich zu allgemeinen gesellschaftlichen Fragen geäußert. Zweifellos ziemlich provokant, ja! Aber er hat niemanden mit dem Tod bedroht.«
»Mich wundert trotzdem, dass solche Filme von Youtube eingestellt werden.«
Wann biss er endlich an?
»Was reden Sie denn ständig von Youtube? «, fragte Sello verärgert. »Das Video war in einem Onlineportal zu sehen, das nur für Schüler zugänglich ist. Patrick wollte mit dem Film die Jugendlichen seines Alters erreichen und nicht die ganze Welt.«
Sollte ich nach dem Namen fragen? Oder lieber in der Redaktion alle Diskussionsforen für Schüler aufrufen?
»Passenderweise heißt dieses Portal ja auch ausstieg.de «, redete Sello weiter. »Wer träumt nicht mal davon, irgendwann auszusteigen? Patrick war ein hochintelligenter Kerl, der eben über das Leben nachgedacht hat.«
ausstieg.de. Wie final – in diesem Fall, dachte ich.
»Woher hatte Patrick eigentlich die Waffe?«
»Das hat mich die Polizei auch gefragt. Ich habe keine Ahnung.«
»Und wieso konnte er mit einer Maschinenpistole umgehen?«, fiel mir ein.
Auch darauf wusste Sello keine Antwort.
Irgendwie war dieses Gespräch nicht sehr ergiebig. »Vielen Dank, dass Sie Zeit für mich hatten«, sagte ich deshalb freundlich.
»Ihre Fragen zu der Waffe gefallen mir überhaupt nicht. Sie gehen davon aus, dass Patrick geschossen hat. Aber das ist einfach falsch!«
»Ich danke Ihnen für Ihre Geduld. Würden Sie mir noch Ihren Vornamen verraten?«
Er hieß Richard. Damit würde ich ihn im World Wide Web finden.
Jansen wartete auf mich. Pöppelbaum hatte ihm berichtet, dass Sello bereit gewesen war, mit mir zu reden. Jansen hatte mir sechzig Zeilen frei gehalten.
»Schreibst du überhaupt was?«, fragte er. »Oder soll ich eine weitere Folge des Bierstädter Haushaltsloch-Dramas verfertigen?«
»Ich schreibe. Aber vorher muss ich ein Video finden. Vielleicht ist es noch bei ausstieg.de zu sehen.«
»Ich helfe dir: Ich suche den Film und du schreibst«, nickte Jansen.
Google verriet mir einige Minuten später, dass Richard Sello juristischer Berater und Wirtschaftsprüfer mehrerer Großkonzerne war. Nichts Spektakuläres. Eine Bildhauerin namens Sello kam im Netz nicht vor.
»Mein Sohn war ein liebenswerter Junge« – Exklusivinterview mit dem Vater des Amokläufers Patrick S.
textete ich.
Richard S. kann sich die schreckliche Tat, die sein 18-jähriger Sohn Patrick begangen haben soll, nicht erklären: »Mein Junge würde so etwas niemals tun.« Die Polizei jedoch hält den Gymnasiasten nach wie vor für einen fünfzehnfachen Mörder. Er soll am Montag im Nobelinternat Schloss Waldenstein seine Mitschüler und sich selbst erschossen haben. Die überlebende Lehrerin Lara Lindenthal (36) hat Patrick S. als Täter identifiziert.
Ich gab wieder, wie der Vater seinen Sohn charakterisiert hatte, erlaubte mir dann aber auch die Frage, wie gut Eltern ihre Kinder kennen können, wenn sie diese gegen gutes Geld in eine Vollversorgung schicken.
»Ich habe das Video gefunden.« Jansen stand im Zimmer – sichtlich erschüttert. »Komm am besten mit in mein Büro.«
»Super!« Ich folgte ihm. »Ist es so schlimm?«
»Wenn ich das blutige Ende der Geschichte nicht kennen würde, täte mir der Junge leid«, erzählte mein Chef.
Sellos Abrechnung – so der Titel. Jansen startete es. Auf dem Monitor erschien Patrick – ganz in Schwarz gekleidet, als sei er einem Vampirfilm entsprungen. Er saß an einem Tisch, hatte ein paar Zettel vor sich liegen, schaute in die Kamera und sprach:
Wenn man weiß, dass man in seinem Leben nicht mehr glücklich werden kann, und sich von Tag zu Tag die Gründe dafür häufen, dann bleibt einem nichts anderes übrig, als aus diesem Leben zu verschwinden. Und dazu habe ich mich entschieden.
Man hat mir gesagt, ich muss zur Schule gehen, um später ein schönes Leben führen zu können. Aber was bringen einem das dickste Auto, das größte Haus, die schönste Frau, wenn es letztendlich für den Arsch ist? Wenn deine Frau beginnt, dich zu hassen. Wenn dein Auto Benzin verbraucht, das du nicht bezahlen kannst. Und wenn du niemanden hast, der dich in deinem Haus besuchen kommt!
Das Einzige, was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe,
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