Grappa und die keusche Braut
Schlüssel. Seine Stimme war leise und angenehm. Der Schlüssel wurde ihm gereicht, er ging zum Aufzug und wartete.
»Also los!« Ich stand auf und ging zu dem Mann.
»Herr Sello?«
»Ja, bitte?«
Bingo. Er war es.
Ich blickte in müde dunkle Augen.
»Mein Name ist Grappa. Maria Grappa. Ich bin Reporterin der örtlichen Zeitung.«
»Presse?« Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Ich habe kein Interesse an Medienkontakten. Mein Sohn hat diese schreckliche Tat nicht begangen. Die Lehrerin lügt.«
Schön, dachte ich, wir sind ja schon mitten im Gespräch.
»Ich möchte Ihnen die Gelegenheit geben, Ihre Meinung zu äußern. Erzählen Sie mir, warum Sie glauben, dass Patrick unschuldig ist. Erzählen Sie mir, was er für ein Junge war. Ich werde nur das schreiben, was Sie mir sagen.«
»Ich habe heute meinen Sohn in der Gerichtsmedizin identifiziert. Auch andere Eltern waren da. Sie hätten mich fast gelyncht.«
»Wollen wir nicht woanders weitersprechen?«, fragte ich.
Sello schaute mich prüfend an.
In dem Moment schlenderte Pöppelbaum heran.
»Mein Fotograf«, erklärte ich. »Aber nur, wenn Sie gestatten.«
»Will ich nicht«, sagte Sello. »Keine Fotos. Auf keinen Fall.«
Pöppelbaum nickte verstehend, hob eine Hand zum Gruß und trollte sich.
»Gibt es hier ein ruhiges Eckchen?«, fragte ich.
»Wir können uns ins Café nebenan setzen.«
Sello ging voran. Die Frauen, die hier Kaffeeklatsch hielten, musterten ihn wohlwollend. Doch er erwiderte keinen der Blicke. Wo war wohl die Mutter des toten Jungen? Waren die beiden verheiratet?
Wir bestellten zwei Kännchen Kaffee und einen Cognac für Sello.
»Zunächst einmal mein herzliches Beileid«, begann ich. »Haben Sie irgendeine Ahnung, was in Ihrem Sohn vorgegangen sein könnte, dass er so eine Tat begehen konnte?«
»Ich glaube nicht, dass mein Sohn das wirklich getan hat«, entgegnete Sello fast trotzig. »Ich kenne Patrick als liebenswerten und sanften Menschen. Warum hätte er seine Mitschüler erschießen sollen?«
»Aber die Lehrerin hat ihn als Täter genannt!«
»Diese Frau Lindenthal, ja.« Sello stockte.
»Glauben Sie ihr nicht?«, fragte ich. »Warum sollte sie ihn beschuldigen? Sie hätte doch nichts davon. Patrick ist tot und alle anderen, die in dem Kurs waren, auch. – Wo ist eigentlich Patricks Mutter? «
Sello schüttelte den Kopf. »Meine Frau hat den Kontakt zu mir und Patrick vor vielen Jahren abgebrochen. Ich weiß nicht, wo sie ist.«
»Warum hat sie Sie und den Jungen verlassen?«
»Ihre Fragen gehen jetzt eindeutig zu weit. Bleiben wir bei den Vorfällen in der Schule.« Sello griff das Glas und schüttete den Cognac in sich hinein.
»War Patrick ein guter Schüler?«, kam ich seiner Forderung nach.
»Natürlich. Auf Schloss Waldenstein haben alle Schüler hervorragende Noten. Das kann man ja wohl auch verlangen, angesichts der Höhe des Schulgelds.«
Da hatte er recht.
»Was wollte Ihr Sohn nach dem Abitur machen? Das Gleiche studieren wie Sie?«
»Nein, Jura und Wirtschaft wären nichts für ihn gewesen«, meinte Sello. »Patrick war eher musisch veranlagt. Er hatte ein gutes Gefühl für Sprachen, hat gemalt, fotografiert und Filme gedreht. Da kam er wohl nach seiner Mutter.«
Jetzt nichts Falsches sagen, ermahnte ich mich. »Ist Ihre Frau Künstlerin?«
»Ja. Bildhauerin. Aber, ob sie es heute noch ist, weiß ich nicht. Ich sagte ja schon, dass wir keinen Kontakt mehr haben.«
»Wie alt war Patrick, als sie ging?«
»Drei. Als er anfing, Fragen zu stellen, habe ich ihm gesagt, dass sie tot ist. Damit hatten sich dann alle weiteren Fragen erledigt.«
Ich schluckte. Meine anfängliche Sympathie für Sello schmolz. »Sie haben eben davon gesprochen, dass Ihr Sohn Filme gedreht hat. Was sind das für Streifen?«
»Was die Jugend heute so macht. Videoexperimente im Internet.« Sello gab der Kellnerin einen Wink und bestellte noch ein Glas Cognac.
»Ihr Sohn soll die Tat in einem Video angekündigt haben. Kennen Sie diesen Film?«
»Ja. Die Polizei hat ihn mir heute gezeigt.«
Hörte ich richtig? Mir wurde heiß und kalt zugleich. Es gab tatsächlich ein Video. Jetzt musste ich mich mit meinen Fragen millimeterweise an diesen Film heranpirschen.
»Ist er noch bei Youtube zu finden? Wissen Sie das?«
»Sie kennen ihn?«, fragte Sello irritiert.
»Ja«, log ich. »Patrick machte einen ziemlich coolen Eindruck.«
»Da kenne ich Patrick besser«, widersprach
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