Grappa und die keusche Braut
draufgegangen bin.«
»Und warum sind Sie es nicht?«
Er nahm noch eine Scheibe Schinken, steckte sie sich in den Mund, kaute zu Ende und sagte dann: »Weil ich keine Zeit hatte, nachzudenken über das alles. Wenn Sie an einem Tag in der Woche eine Wasserleiche zu bearbeiten haben, am nächsten kommt ein geschändetes und ermordetes Mädchen und an Tag drei ein erschossener Tankwart – dann denken Sie nicht über den Sinn des Lebens nach. Sie haben diese Fälle nämlich aufzuklären und Erfolge zu präsentieren. Und wenn die Mörder dann vor Gericht kommen, nehmen einen die Verteidiger dermaßen auseinander, dass man sich fast entschuldigt, dass man es gewagt hat, einen Mädchenmörder oder einen Räuber zu ermitteln. Und – glauben Sie mir, meine Damen – ich habe mehr als einmal einen Angeklagten quietschvergnügt aus dem Gerichtssaal verschwinden sehen – frei wie ein Vogel und mit einem höhnischen Blick in meine Richtung.«
Brinkhoff hatte sich in Rage geredet. Ich mochte ihn immer mehr.
»Also«, mischte sich die Bäckerin ein. »In anderen Ländern geht das anders. Aber nicht schlechter, find ich jedenfalls. Ich hab da heute was gelesen. In der BILD.«
Sie holte das Blatt vom Nebentisch. »Ich les das mal eben vor.« Sie setzte sich in Positur. » Scharia-Gericht befiehlt Nasen- und Ohren-Amputation. Ein Gericht in Lahore (Ost-Pakistan) hat angeordnet, die Nasen und Ohren zweier Angeklagter zu amputieren. Grund: Die beiden Brüder, Sher Mohammad und Amanat Ali, sollen ihrer zweiundzwanzigjährigen Cousine Fazeelat Bibi zuvor selbst Nase und Ohren abgeschnitten haben. Grund für die Bluttat der Brüder: Sher Mohammad hatte dem jungen Mädchen einen Heiratsantrag gemacht, den es aber ablehnte. Daraufhin überfielen die zwei Verurteilten das Mädchen und verstümmelten es. Im Namen der Scharia werden die Männer mit einer Körperstrafe zur Rechenschaft gezogen. Diese Strafen heißen ›Spiegelstrafen‹, weil sie Gleiches mit Gleichem vergelten. Das ist doch der Hammer, oder?«
»Andere Länder, andere Sitten«, zuckte ich die Achseln. »Aber ich muss sagen, dass mir das in dem speziellen Fall, den Sie gerade vorgelesen haben, gut gefällt.«
»Ja, hat was«, stimmte mir die Bäckerin zu. »Ich würd die Bälger, die mich verprügelt haben, auch gern mal in die Finger bekommen.«
»Na, na, meine Damen!«, empörte sich Brinkhoff. »Ich muss Selbstjustiz ablehnen. Für die Bestrafung der Bäckereiräuber ist ein Gericht zuständig.«
»Im ersten Fall hat ein Gericht das Urteil gefällt«, wandte ich ein.
»Sollten die Zeiten, in denen Dieben die Hand abgehackt wird, nicht langsam vorbei sein?«
»Klar. Aber der Satz: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu – der macht schon irgendwie Sinn. Warum soll der nicht auch rückwärts gelten?«
Frau Schmitz stimmte mir in vollem Umfang zu.
Brinkhoff musterte uns, schüttelte den Kopf und grinste. »Wer hat eigentlich behauptet, dass Frauen das schwache Geschlecht sind?«
»Ein Möchtegernmacho natürlich«, gab ich zurück. »Wenn er uns als schwach bezeichnet, gewinnt er automatisch an Stärke. Aber wissen Sie was, Herr Brinkhoff?«
»Nee.«
»Eigentlich kommt es doch nur auf den Charakter an.«
»Da haben Sie recht. Und deshalb mache ich jetzt einen Vorschlag – auch wenn ich das nach der Etikette nicht dürfte. Wir kennen uns jetzt schon so lange, haben Höhen und Tiefen miteinander durchlebt – wir drei sollten uns endlich duzen. Ich heiße Anton.«
Ups.
Aber warum eigentlich nicht?
»Wie soll ich dich denn jetzt nennen, Frau Grappa?«, fragte die Bäckerin.
»Grappa – wie alle anderen. Na ja, fast alle anderen.«
»Das wird sich irgendwie einspielen«, meinte Brinkhoff.
Der Frühstückstisch war inzwischen leer gegessen. Wir redeten noch eine Weile und ich fühlte mich so wohl, dass ich fast die Zeit vergaß. Aber ich musste zur Arbeit.
»Vielen Dank, Frau Schmitz«, sagte ich. »Wann gibt es denn wieder Mandelhörnchen?«
»Mach ich heut Nachmittag frisch«, antwortete sie.
»Prima. Dann ist es mit der Fastenzeit ja endlich vorbei. Tach auch.«
Die Redaktionskonferenz hatte gerade erst begonnen. Ich wünschte allen einen guten Morgen, zog meinen Stuhl an den Konferenztisch und hörte zu. Jansen hatte das Tagesprogramm festgelegt.
»Ich bleibe an der Haushaltslüge dran«, erklärte er. »Da hat sich nämlich etwas Spektakuläres ereignet. Ihr erinnert euch, dass sich die
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