Grappa und die keusche Braut
Richard Sello teilte mir mit, dass er morgen auf der Trauerfeier dabei sein würde und mich anschließend sprechen wolle.
Ich rief Jansen an und meldete mich zurück. Brinkhoff und Sello erreichte ich nicht.
Den Rest des Abends verbrachte ich vor dem Fernseher. Natürlich berichteten die Magazine ausführlich über die bevorstehende Trauerfeier. Das Ableben der Bierstädter Kämmerin stand in der Aufmerksamkeit ein wenig zurück.
Vor dem Rathaus waren Sicherheitskräfte zusammengezogen worden. Sie kontrollierten die Akkreditierungen der Medienvertreter und die Einladungen der Trauergäste. In der Bürgerhalle standen sechzehn Schautafeln. Eine jede zeigte ein großes Porträt, einige kleinere Fotos, die Namen und die Lebensdaten des Opfers sowie das obligatorische schwarze Trauerband über der Ecke links oben. Auch das Bild Patrick Sellos entdeckte ich auf einer Tafel.
Die Menschen verhielten sich sehr ruhig, flanierten an den Bildern der Opfer vorbei, verharrten, legten Blumen nieder. Ab und zu war Weinen und Schluchzen zu hören.
Schwarz gekleidete Ordner, wohl von einem Bestattungsinstitut herbestellt, wiesen die Leute auf die Plätze. Auf der Empore versuchte sich ein Organist an traurigen Weisen.
Die ersten Stuhlreihen waren reserviert für die Schülerinnen und Schüler des Internates, die Angehörigen der Opfer, das Lehrerkollegium von Schloss Waldenstein und die Begleiter der offiziellen Redner.
Journalistenplätze gab es nicht viele. Es war nur ein TV-Sender mit drei Teams zugelassen worden, der sich verpflichtet hatte, sein Material anderen Sendeanstalten frei zur Verfügung zu stellen. So sollten die Angehörigen der Opfer vor aufdringlichen Kameraleuten geschützt werden. Pöppelbaum und einige andere Fotografen drängelten sich in einem abgesperrten Korridor ohne Sitzplätze.
Auf den Stühlen lagen Pressemappen. Auch die Rede von Caroline von Fuchs fand ich darin vor. Sie war kurz. Dem Programm entnahm ich, dass Caroline von Fuchs als Letzte sprechen würde.
Jansen und ich saßen ziemlich vorn, wir hatten in Bierstadt Heimvorteil. Unsere Arbeitsgeräte waren der platzsparende Block und ein Kugelschreiber.
»Da ist Richard Sello«, flüsterte ich. »Dass er sich hierher traut, finde ich mutig.«
»Vielleicht weiß niemand, dass er der Vater des Mörders ist«, überlegte Jansen.
»Er will mich nach der Trauerfeier sprechen. Er hat mir auf die Mailbox gesprochen.«
»Da kommt der Bundespräsident«, zeigte Jansen nach vorn. »Und die Bischöfe.«
Ich ließ meinen Blick über die Stuhlreihen vor uns schweifen. Nach und nach füllten sie sich mit jungen Frauen und Männern, begleitet von den Lehrern. Ich erkannte Dr. Lerchenmüller, den Internatsdirektor. Er saß am Gang, neben sich eine Frau im Rollstuhl: Lara Lindenthal, die einzige Überlebende des Massakers. Sie war bleich und starrte vor sich auf den Boden. Ihr dichtes Haar war zu einer Hochsteckfrisur gebändigt worden. Das schwarze Kleid mit dem kurzen Bolerojäckchen stand ihr hervorragend. Lerchenmüller hielt Lindenthals linke Hand.
Der Organist spielte das Ricercar für sechs Stimmen von Bach. Es war eine tieftraurige, an den Nerven zerrende Melodie.
Nachdem die Musik verklungen war, erhob sich der Bundespräsident. Langsam schritt er zu dem Rednerpult, das auf der Bühne stand und mit weißen Rosen geschmückt war.
»Wir trauern um neun junge Frauen und sieben junge Männer. Sie waren Schülerinnen und Schüler des Internates Schloss Waldenstein. Wir trauern mit den Eltern, die Kinder verloren haben, mit den Freundinnen und Freunden der Getöteten. Ein junger Mensch hat gemordet – und er hat viele an Leib und Seele verletzt. Durch die Tat hat er Familien in Trauer und Verzweiflung gestürzt – auch die eigene.«
Ich blickte zu Richard Sello. Der saß reglos. Was wohl in ihm vorging? Ob er inzwischen endlich auch an die Schuld seines Sohnes glaubte?
»Jedes Kind wird unschuldig geboren«, fuhr der Präsident fort. »Wenn ein Kind stirbt, dann sterben auch Hoffnung und Zukunft mit ihm. Was aber, wenn Kinder selbst zu Mördern werden? Uns quälen die immer gleichen Fragen: Wie konnte das geschehen? Wie kann ein Mensch so etwas tun? Gab es keine Alarmsignale, keine Zeichen, auf die man hätte reagieren können?«
Eine Frau begann laut zu schluchzen. Ich erkannte sie wieder: Sie hatte am Tag des Anschlags vor dem abgesperrten Schulhof gestanden und war von der Polizei weggeführt worden.
»Tun wir genug, um
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