Grappa und die keusche Braut
uns und unsere Kinder zu schützen? Tun wir genug, um gefährdete Menschen vor sich selbst zu schützen? Tun wir genug für den inneren Frieden bei uns, den Zusammenhalt? Wir haben uns auch alle selbst zu prüfen, was wir in Zukunft besser machen, welche Lehren wir aus dieser Tat ziehen müssen. Wir wissen doch schon lange, dass in Filmen und Computerspielen extreme Gewalt, die Zurschaustellung zerstörter Körper und die Erniedrigung von Menschen im Vordergrund stehen. Dem müssen wir Einhalt gebieten.«
»Warum verbietet er dann diesen Schrott nicht endlich?«, raunte Jansen. »Aber dazu müsste man der Filmindustrie ja mal richtig auf die Füße treten. Und das macht im real existierenden Kapitalismus niemand.«
»In der Abschiedsbotschaft des Mörders sehen wir einen unglücklichen jungen Mann, der einige Fragen stellt, die ich mir auch stelle. Wie schön, klug, kraftvoll und reich muss einer sein, um dazuzugehören? Und – was wird aus denen, die diesem Bild nicht entsprechen? Wie schnell fällt einer aus dem Rahmen, nur weil er anders ist? Einen Menschen so anzunehmen, wie er ist – das ist die wichtigste Voraussetzung, um einander verstehen und annehmen zu können, um einander zu helfen. Liebe Angehörige, meine Frau und ich, wir wünschen Ihnen Kraft und Zuversicht. Wir wünschen Ihnen, dass Ihr Leben wieder einen Rahmen findet – einen Rahmen, der Ihnen hilft weiterzuleben und in dem auch die Toten und Verlorenen, der Schmerz und die Trauer ihren Platz finden. Ganz Deutschland trauert mit Ihnen. Sie sind nicht allein.«
Das war’s. Ein Air aus einer Bach-Suite donnerte durch die Halle. Der Bundespräsident setzte sich in die erste Reihe neben den Internatsleiter. Dann ging der katholische Bischof auf die Bühne, es folgte der evangelische. Beide interpretierten die Bedeutung des Psalms 39, 13: Höre mein Gebet und vernimm mein Schreien, schweige nicht zu meinen Tränen.
Den Reden folgte ein weiteres kurzes Orgelstück. Gleich würde Caroline von Fuchs sprechen. Ich nahm das Blatt, auf dem ihre Rede abgedruckt war, aus der Pressemappe und legte es auf meine Knie.
Die Orgel verklang mit einem Crescendo.
Caroline von Fuchs schritt langsam auf das Pult zu, an den Schautafeln vorbei. Ihr hellblondes Haar wippte bei jedem ihrer Schritte. Vor Patrick Sellos Bild schien sie etwas zu zögern. Die Haltung ihrer Schultern sagte nichts aus über ihre Stimmung. Sie trug einen langen weißen Rock und einen dünnen weißen Rollkragenpullover. Als sie das Pult erreichte, legte sie ihr Manuskript vor sich hin. Sie war nicht geschminkt und trug keinen Schmuck.
Sie schaute vor sich auf das Pult und ließ Zeit verstreichen. Eine sehr lange Zeit. Dabei erweckte sie nicht den Eindruck, als könne sie nicht beginnen, weil sie sonst weinen würde. Sie wirkte gefasst, aber ihr Blick hob sich nicht. Minute um Minute verging. Dann nahm sie das Blatt, das vor ihr lag, und faltete es einmal in der Mitte. Und dann noch einmal, um es wieder abzulegen.
Nun endlich begann sie zu reden. Mit klarer, lauter Stimme nannte sie die Namen der Toten. Einen nach dem anderen, in alphabetischer Reihenfolge der Nachnamen. Anschließend verstummte sie erneut. Es war totenstill. Ich bekam Gänsehaut. Der Auftritt der jungen Frau war unglaublich eindrucksvoll. Mit dem, was in ihrem Redemanuskript stand, hatte das nicht das Geringste zu tun.
»Ich spreche zu euch. Zu euch, die ich eben gerufen habe. Ich trage Weiß. Ihr könnt das nicht mehr sehen, denn ihr könnt nie mehr etwas sehen. Darum sage ich es euch. Auch Weiß ist eine Farbe der Trauer.«
Wieder eine Pause.
»Weiß ist aber auch die Farbe der Unschuld. Eigentlich müsste ich bei euch sein, denn ich bin eine von euch. Der Zufall führte mich an jenem schwarzen Tag an einen anderen Ort. Darum bin ich es, die sprechen kann.
Ich trage das Weiß zu Ehren eurer Unschuld. Und meiner. Ihr wisst, dass keiner unter euch Schuld trägt, denn ihr wart dabei. Ich weiß es auch, aber ich war nicht dabei. Ich lege Zeugnis ab für eure Unschuld. Auch für die von Patrick. Nicht Patrick hat geschossen. Ihr wisst es, ich weiß es.«
Sie richtete den Blick auf Lara Lindenthal und blieb wieder für eine lange Weile still. Dann nahm das Mädchen langsam den rechten Arm hoch und zeigte mit fest ausgestrecktem Zeigefinger auf die Lehrerin. Unvermittelt stieß sie die beiden Worte hervor, mit denen Émile Zola einst Stellung für Dreyfus bezog: »J’accuse!«
Die Trauergesellschaft war reg-
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