Grappa und die keusche Braut
Datum der Anmeldung und so weiter. Das Foto zeigte den hübschen Schüler. Ein paar flapsige Sprüche über Verfolgungswahn standen daneben.
»Das ist Patricks Personalseite«, erklärte mir Caroline. »Solche Seiten haben alle Chatter. Meistens stimmen die Angaben. Und dann gibt es noch die Fakes.«
»Fakes? Was meinen Sie damit?«
Sie loggte sich aus und klappte den Deckel des kleinen PCs zu.
»Chatter, die so tun, als seien sie jemand anders. Um andere reinzulegen und bloßzustellen. Die Leute geben sich eine Chatidentität, die voll gelogen ist. Patrick hat die Fakes regelmäßig enttarnt und uns gewarnt.«
»Ich verstehe. Aber das ist doch so üblich im Chat. Auf Single-Seiten sind alle Männer mindestens erfolgreiche Manager mit viel Kohle und der Potenz eines Bullen, die Frauen sehen aus wie Models oder Feen. Aber was dort an Texten fabriziert wird, erreicht noch nicht mal das Niveau der ersten Grundschulklasse. Und beim ersten Date gibt es das böse Erwachen.«
»Diese Art Lügerei meine ich nicht«, erklärte Caroline. »Ich meine den achtundfünfzigjährigen Schulleiter, der sich als sechzehnjährige Schülerin ausgibt, junge Männer anschwärmt, um sich an den Gesprächen anschließend aufzugeilen. Oder die sechsunddreißigjährige Lehrerin, die einen ihrer Schüler mit erotischen Fantasien verfolgt.«
Das war starker Tobak!
»Lerchenmüller und Lindenthal haben mit euch gechattet?«, fragte ich fassungslos.
»Ja. Ein halbes Jahr lang. Erst dann sind die beiden aufgeflogen.«
»An wem war die Lindenthal interessiert?«
»Dreimal dürfen Sie raten.«
»Oh. Ich ahne es.«
Caroline von Fuchs sah mich mit grünen Augen an und nickte ernst.
»Der Tod der Kämmerin ist geklärt«, überraschte uns Jansen zu Beginn der Redaktionskonferenz.
»Hat die Freundin gestanden?«, fragte Harras.
»Nicht ganz. Es war ein Unfall.«
»Strangulation als Unfall?« Ich war perplex.
»So hab ich auch reagiert, Grappa«, entgegnete Jansen. »Aber ich musste mich eines Besseren belehren lassen.«
»Würgen als Luststeigerung. Kennst du das etwa nicht, Grappa?«, spielte Pöppelbaum den Überlegenen.
»Kennen wäre zu viel gesagt. Aber gehört hab ich davon schon mal. Nachempfinden kann ich es nicht.«
»Die Frage ist jetzt, wie wir journalistisch damit umgehen«, warf Jansen in die Runde.
»Am besten dezent«, schlug ich vor. »Sonst werden die Vorurteile gegen lesbische Lebensgemeinschaften noch verstärkt.«
»Ich würde die Wahrheit schreiben«, hielt Simon Harras dagegen. »Und zwar nichts als die Wahrheit.« Er war eben Sportredakteur.
»Auch die Wahrheit kann dezent dargestellt werden«, meinte ich.
»Hat sonst noch jemand eine Meinung?«, fragte der Chef.
Da wir heute in kleiner Besetzung konferierten, kamen wir schnell zum Ende.
»Grappa, du hast sechzig Zeilen auf der Eins. Darüber sprechen wir gleich unter vier Augen. Und jetzt zu den Terminen heute.«
Jansen verteilte die Routinearbeit. Die Kultur fiel einmal mehr aus. Wurbelchen weilte noch in den kleinen Fluchten.
Jansen pfiff durch die Zähne, nachdem ich ihn auf den neuesten Stand gebracht hatte.
»Das ist ein Ding, Grappa! Die Lindenthal war hinter dem kleinen Sello her! Vielleicht hat sie es nicht verkraftet, dass er sie hat abblitzen lassen.«
»Das wissen wir nicht. Und ich werde nichts darüber schreiben. Morgen werde ich erst mal der Polizei auf die Sprünge helfen und ihnen ihr bestes Beweisstück um die Ohren hauen: das Video!«
»Was wohl der Leiter der Mordkommission dazu sagen wird?«
Ich zuckte die Schultern.
»Mit meinem Artikel müsste ich in einer Stunde fertig sein«, sagte ich. »Dann muss ich dringend einkaufen. Caroline ist mit ganz kleinem Gepäck angereist – nur mit einem Netbook bekleidet.«
Peinliche Enthüllung: Amokvideo war Theater-Inszenierung – titelte ich.
Das Bekennervideo im Internet, in dem der mutmaßliche Amokläufer Patrick S. (18) seine Tat angekündigt haben soll, ist das Ergebnis eines Theaterprojekts im Nobelinternat Schloss Waldenstein. Für Polizei und Staatsanwaltschaft gilt der Film als wichtiges Beweisstück für die Täterschaft des 18-Jährigen. Doch Patrick S. hat lediglich einen Text vorgetragen, den er für die Theater-AG der Schule erarbeitet hatte. Der Kurs wurde von der Deutschlehrerin Lara Lindenthal (36) geleitet, die als Einzige das Massaker überlebt hat. Warum ließ die Schule die Ermittlungsbehörden in dem Glauben, dass
Weitere Kostenlose Bücher