Grappa und die Toten vom See
– mit unfassbarer Eleganz! Ich war so gebannt, dass ich zu weinen begann.«
»Ich hab so was bisher leider nur in der Glotze gesehen. Aber ich kann mir vorstellen, wie schön das ist.«
»Und was ist der Moment, der dich zu Tränen rührt?«, fragte ich.
»Der Zug der Kraniche im Herbst«, antwortete Wayne versonnen. »Sie schreien im Flug und bilden ein nach unten offenes Dreieck. Der Führungsvogel an der Spitze lässt sich, wenn er erschöpft ist, nach hinten fallen, und ein anderer übernimmt seinen Job. Dieses Bild am Himmel und diese archaischen Schreie – da läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Und ich weine.«
Ein Eichelhäher landete über uns in einer Buche. Er hüpfte auf dem Zweig hin und her, als wollte er auf sich aufmerksam machen.
In diesem Augenblick klingelte mein Handy. Der Ton wirkte total deplatziert. Der Eichelhäher ließ einen Klecks auf den Kühler meines Wagens fallen und flüchtete keckernd.
»Hallo?«
»Hier Susi. Grappa?«
»Ja, klar.«
»Da hat jemand für dich angerufen. Ein Herr Fellner. Er will dich dringend sprechen wegen dieser Morde in Italien. Darf ich ihm deine Handynummer geben?«
»Was will er denn genau?«
»Keine Ahnung. Er hat deinen Artikel in der Onlineausgabe gelesen und sagt, es sei wichtig.«
»Gib ihm meine Nummer! Hast du seine notiert?«
»Nö. Sollte ich?«
Ich raufte mir in Gedanken die Haare.
»Er will wieder anrufen«, behauptete sie, »in fünf Minuten.«
»Dann gib ihm meine Nummer und schreib seine auf!«
»Susi glänzt mal wieder vor Intelligenz«, muffelte ich, während ich sie wegdrückte, doch Pöppelbaum reagierte nicht. Er war im Naturrausch und knipste ein Bild nach dem anderen.
»Ich glaub’s nicht, Grappa«, flüsterte er plötzlich. »Dreh dich mal langsam um.«
Ich tat es und blickte in die Augen eines Wildschweins. Schnell betätigte ich die elektrischen Fensterheber.
»Ich versuch, näher ranzukommen.«
»Das lässt du sein!«, befahl ich. »Diese Viecher können saugefährlich werden!«
Zum Glück verschwand das Schwein in dem Moment wieder im Wald.
»Wenn du die Tierwelt entdecken willst, mach einen Vorbereitungskurs im Zoo«, riet ich.
»Ist ja gut. Was ist denn nun?«
»Ich warte auf einen Anruf.«
Der erfolgte ein paar Sekunden später. Der Mann stellte sich als Fabian Fellner vor und behauptete, mit David Cohn befreundet gewesen zu sein.
»Ich habe Ihren Artikel gesehen, Frau Grappa«, erklärte er.
»Mein Beileid. Was Ihrem Freund passiert ist, ist schrecklich. Was möchten Sie von mir, Herr Fellner?«
»Ich glaube, ich kann Ihnen helfen.«
»Und wie?«
»Ich weiß, warum David in Italien war.«
»Oh. Das klingt wirklich interessant. Ich höre.«
»Er hat Material über das Hotel Meina gesammelt.«
»Mh. Ein Hotel?« Ich verstand nur Bahnhof.
»Haben Sie jemals vom Massaker am Lago Maggiore gehört? Im September 1943.«
»Leider nein.«
»Mitglieder der ›Leibstandarte-SS Adolf Hitler‹ haben damals insgesamt fast sechzig jüdische Flüchtlinge ermordet und sie im See versenkt. Auch Verwandte von David Cohn waren darunter. Zuvor hielten sie sich in einem Hotel in Meina auf, das einem türkischen Juden gehörte. Von dort wollten sie in die Schweiz reisen oder vielmehr flüchten. An dieser Story war David dran.«
»Und darum sollen die Mahlers umgebracht worden sein? Wer sollte jemanden wegen einer so alten Sache töten? Das ist doch siebzig Jahre her. Selbst wenn Cohn etwas herausbekommen hat, was noch nicht bekannt war … die Täter von damals leben doch bestimmt nicht mehr oder sind inzwischen uralt.«
»David hat etwas herausbekommen, was auch heute wichtig ist. Die Juden hatten damals ihren ganzen Besitz bei sich. Bevor sie Italien in Richtung Schweiz verlassen konnten beziehungsweise ermordet wurden, haben die SS-Leute sie ausgeraubt. Diese Tatsache ist nie wirklich erforscht worden.«
»David Cohns Vorfahren wurden erst bestohlen und dann getötet?«
»Ja. Das hat er mir zumindest erzählt und er war ganz aufgeregt. Er wollte sich alles zurückholen. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Und es ging nicht um eine kleine Geldsumme, sondern um ein Vermögen, das sich inzwischen vervielfacht habe – so seine Worte.«
»Waren die Cohns denn so reich?«
»Ja, das waren sie. Samuel Cohn war Diamantenhändler in Saloniki. Die Diamanten, die er mit auf die Flucht genommen hatte, sind nie gefunden worden.«
»Dann hatte David also eine Spur?«
»So hab ich ihn verstanden.«
»Eine Spur, die nach
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