Grappa und die Toten vom See
wir. Hier war der Blick auf den See besonders schön. Das gegenüberliegende Ufer bildete eine sanfte, leicht verschwommene Linie, ferne Gebäude schmiegten sich ans blaue Wasser oder ins Grün der Berge.
Alte Bäume, Bänke am Ufer, eine Art Kiosk mit kleiner Gartenrestauration.
Ein Polizeiwagen stoppte und ein uniformierter Gesetzeshüter stieg aus.
»Komm, den fragen wir!«
Pöppelbaum folgte mir. Ich sprach den Polizisten auf Englisch an, doch diese Sprache beherrschte er noch weniger als ich. Ich grub in meiner sprachlichen Fantasie und konstruierte drei Begriffe, von denen ich glaubte, sie würden einem Italiener verständlich sein. Hotel, Nazismo, Assassinio . Das reichte. Seine Miene wurde sehr freundlich und er sprach mit großen Gesten in einem sehr melodischen Italienisch auf uns ein. Die einzelnen Wörter konnten wir nicht verstehen, aber aus dem Zusammenhang zwischen Gestus und Suada wurde dennoch eine Menge klar. Das Hotel hatte genau an dieser Stelle gestanden und er wusste, dass darin Juden gelebt hatten, die später ermordet worden waren. Am Ende wies er auf ein großes Bauschild am Straßenrand.
Ich las Hotel Victoria und der Rest erschloss sich mir irgendwie. Beim Wort demolizione wurde mir alles klar: Das Grand Hotel Victoria gab es nicht mehr. Demolizione – demoliert, und zwar schon vor einigen Jahren.
Immerhin hatten wir die Stelle gefunden, an der das Massaker stattgefunden hatte. Wir standen auf historischem Boden.
Doch der Ort hatte sich in den siebzig Jahren verändert. Es gab eine Tankstelle, den Parkplatz, ein Computergeschäft, dann diese kleine Bar. Auf der anderen Straßenseite – genau gegenüber dem ehemaligen Hotel – befand sich eine Villa namens Eden mit einem verborgenen Garten, aus dem verwitterte Steinfiguren auf den See blickten. 1943 – schon da hatte diese Villa dort gestanden. Hatten deren damalige Bewohner mitbekommen, was sich schräg gegenüber abspielte?
Das Grundstück, auf dem sich das Grand Hotel Victoria erhoben hatte, war eingeebnet worden. Aber nun bemerkten wir einige wenige Überbleibsel der Bausubstanz und der Garteneinrichtung: mehrere Tonscherben von Blumenkübeln, ein Stück Geländer, neben dem ein Weg zu einem Bootssteg führte. Es war aus Metall, mit Jugendstilornamentik geschmückt und rostete vor sich hin. Die kleinen Steinsäulen, die von den Abrissbaggern nicht zerstört worden waren, trugen merkwürdige Verzierungen. Verwittert und kaum noch zu identifizieren, aber ich erkannte eine speiende Teufelsfratze, wie ich sie häufig als Schmuck an gotischen Kathedralen gesehen hatte, einen Bacchus, der weinselig die Augen verdrehte, und eine schöne, sanfte Frau mit geschlossenen Lidern.
Ich legte meine Hand auf das Geländer und schauderte. Vielleicht hatte auch ein todgeweihter jüdischer Flüchtling genau diese Stelle berührt.
Im ehemaligen Garten waren die großen, fächerigen Palmen, die überall in dieser Gegend wuchsen, abgehackt worden. Doch rund um die Stümpfe entstand neues Leben. Viele Minipalmen gaben sich Mühe, an Höhe zu gewinnen. Ich holte mein Schweizer Messer aus der Tasche und grub eine der Pflanzen aus.
Wayne beobachtete mich. Er ahnte, was in mir vorging, und sparte sich eine spöttische Bemerkung.
»Guck mal, das Kellergewölbe existiert noch.« Er winkte mich zu einer Stelle, die mit einem festen Zaun besonders gut gesichert war.
Ja, da ging es in die Tiefe. Die Kellerdecke war großflächig eingebrochen und wir blickten auf ein aus Ziegelsteinen gemauertes Kreuzgewölbe, leer geräumt und dem Verfall ausgesetzt. Getränkedosen und Plastiktüten lagen auf dem Boden.
Ich blickte zum See. Das leicht plätschernde Wasser, die sich spiegelnde Sonne auf der blanken Fläche und der sanfte Wind. Hatten die Opfer von vor siebzig Jahren gespürt, dass sie ein grausames Ende finden würden, wenn sie von hier aus auf den See blickten? Oder beherrschte sie die Hoffnung, dass doch noch alles gut werden würde?
»Ich hab alles im Kasten«, teilte mir Wayne mit. »Wir könnten eine Reportage mit dem Titel Der Ort des Grauens heute komplett bebildern. Ein Wohlfühlausflug ist das nicht heute. Ich hab verdammt schreckliche Bilder im Kopf.«
»Nicht nur du. Die Nazis haben hier unfassbar gewütet, ich habe mich gestern im Netz noch ein wenig schlaugemacht. Nicht nur in Meina, sondern in vielen Dörfern am Lago. Der Begriff Massaker am Lago Maggiore ist den geschichtlich Interessierten durchaus bekannt.«
»Das steht aber in
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