Grappa und die Toten vom See
weiß, sondern hat eine Menge Zwischentöne.« Sein Handy klingelte. »Moment! Ja. Ich verstehe. Einen Augenblick bitte, ich muss den Standort wechseln.«
Er erhob sich und verließ den Raum.
Wayne und ich schauten uns an. Irgendetwas sagte uns, dass etwas Entscheidendes geschehen war. Einfach abhauen konnte Kleist zum Glück nicht, sein Sakko hing noch über dem Stuhl.
»Ich muss noch mal nach Milano und dann zurück nach Deutschland«, teilte er uns mit und griff nach dem Jackett.
»Was ist passiert?«
»Der Radfahrer. Er war kein Zufallsopfer. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass er der Täter ist.«
»Wie kann er der Täter sein? Er ist doch tot wie die anderen. Das verstehe ich nicht. Kannst du mir das erklären?«
Er zögerte. »Geh bitte mit dem, was ich dir jetzt sage, verantwortlich um.«
»Das mache ich doch immer.«
Ich hörte ein Hüsteln. Dann: »Die Kippen. Es gibt ja diese eine Stelle im Wald, an der zahlreiche Zigarettenkippen gefunden wurden. Die DNA-Analyse hat ergeben, dass der Radfahrer sie geraucht hat, während er auf jemanden wartete. Vermutlich auf Cohn und die Mahlers. An der Hand des Mannes wurden außerdem Schmauchspuren entdeckt, er hat also geschossen.«
»Dann war da aber noch jemand«, schloss ich messerscharf. »Und zwar der, der den Radfahrer umgenietet hat.«
»Oder der Radfahrer war harmlos und wurde gezwungen zu schießen. Würdest du Zigarettenkippen mit deiner DNA an einem Tatort zurücklassen, wenn du vorhast, einen Mord zu begehen?«, mischte Wayne sich ein.
Kleist zog das Jackett an. »Da ist noch viel zu klären. Darum muss ich nach Mailand. Wir sehen uns in Bierstadt. Euch noch ein paar erfolgreiche Tage.« Er drückte mir einen Kuss auf die Wange und verschwand.
Abschied und Pärchenanalyse
Ich nahm mein Netbook und setzte mich in eine ruhige Ecke des Hotelgartens. Schnack wartete auf einen neuen Artikel.
Fünf Tote am Lago Maggiore –
Spuren führen in Nazivergangenheit
Aus Italien berichtet unsere Reporterin Maria Grappa
In dem Fall der fünf am Lago Maggiore erschossenen Menschen gibt es immer noch keine heiße Spur. Immerhin lichtet sich langsam das Dunkel über der Frage nach den Motiven für die Bluttat. Die Hinweise führen tief in die Vergangenheit, in das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte.
Vor siebzig Jahren schrieb Samuel C. einen Brief an seinen Bruder Leon in den USA. Samuel C., Diamantenhändler aus Saloniki, gehörte zu den siebentausend Juden, die vor den Nationalsozialisten in die Schweiz flüchten wollten und in Norditalien gefangen, ausgeraubt, gequält, deportiert und ermordet wurden. Die Leichen Samuel Cohns, seiner Frau Miriam und seines Sohnes Benjamin wurden am Ufer des Lago Maggiore angespült – wie die vieler jüdischer Flüchtlinge.
Ein Nachkomme der Familie, der Journalist David C., hatte begonnen, die Geschichte seiner Vorfahren zu dokumentieren. Er glaubte, eine Spur zu den Tätern von damals und zu ihren späteren Nutznießern gefunden zu haben. Denn: SS-Hauptsturmführer Steiger raubte Samuel C. ein Millionenvermögen in Diamanten. Steiger wurde für seine Taten nie zur Rechenschaft gezogen. Seit Kriegsende fehlt von ihm jede Spur.
David C. konnte seine Nachforschungen nicht mehr beenden: Er und drei Verwandte fielen unbekannten Mördern zum Opfer.
Das sollte zunächst reichen. Ich hängte die Ablichtung des Briefes, einige Fotos des alten Hotels Victoria und Pöppelbaums Bilder an: das Gelände am See mit dem alten, maroden Zaun, das Kellergewölbe, der ehemalige Garten mit den Palmschösslingen, zerbrochenen Tonscherben und Glassplittern.
Nachdem ich auf Senden geklickt hatte, rief ich Schnack an. Er überflog den Text und war zufrieden.
»Verfolgen die Behörden irgendeine heiße Spur?«
Sollte ich ihm erzählen, dass der Radfahrer kein Zufallsopfer, sondern vielleicht sogar der Mörder war? Nein, exklusive Informationen mussten richtig dosiert werden.
»Ich weiß nur, dass der aus Bierstadt entsandte Hauptkommissar Kleist sich in Mailand noch einmal mit den internationalen Polizeibehörden abstimmt und dann zurückkehrt nach Bierstadt.«
»Wäre es dann nicht sinnvoll, Frau Grappa, Sie würden das Spesenkonto der Zeitung nicht länger belasten?«
Das musste ja kommen. Ich spürte die Sonne auf meinen Wangen, beobachtete, wie sich das Wasser auf dem See kräuselte und schmeckte den italienischen Speisen nach.
»Nun gut, Kollege Pöppelbaum und ich werden noch eine Sache abklären. Morgen früh klemmen
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