Grappa und die Toten vom See
keinem Reiseführer«, stellte Wayne fest.
»Nee. Wieso auch? Es passt nicht in die Sommerfrische. Die Deutschen, die hier Urlaub machen, haben vielleicht Väter, die hier gemordet haben. Auch die Einheimischen waren damals nicht alle unschuldig. Die haben die Juden an die Nazis verraten.«
»Nach dem Krieg fanden doch jede Menge Prozesse statt«, sagte Wayne. »Wurden die Offiziere nicht zur Rechenschaft gezogen?«
»Doch, es gab einen Mordprozess. 1968 gegen fünf Offiziere der ›Leibstandarte-SS Adolf Hitler‹. Die Anklage lautete auf Mord, begangen in grausamer Weise und aus niedrigen Beweggründen sowie Rassenhass. Nach sechzig Verhandlungstagen fiel das Urteil: drei Mal lebenslange Haft für die Hauptschuldigen.«
»Wenigstens etwas.«
»Falsch. Der Bundesgerichtshof hob die Urteile zwei Jahre später auf. Wegen Verjährung. Die Angeklagten wurden freigelassen.«
Unterwegs zurück nach Stresa kehrten wir in einer Trattoria ein. Während wir auf die Pasta warteten, sichteten wir Waynes Fotos.
»Sehr gut«, lobte ich. »Du hast den richtigen Blick auf den See erwischt. Das marode Geländer, dahinter der See mit dem Ausflugsdampfer. Gestern und heute. Tod und Leben. Und diese hellgrünen Babypalmen zwischen Scherben und Steinschutt – sehr aussagekräftig.«
Mein Handy meldete sich.
»Wo seid ihr?«, fragte Kleist.
Ich erklärte es ihm.
»Du weißt also davon?«, sagte er.
»Vom Massaker am Lago Maggiore? Ja! Und woher weißt du davon? Wo bist du überhaupt? Was hast du gemacht?«
»Das ist eine längere Geschichte«, antwortete er. »In etwa drei Stunden könnte ich im Hotel sein.«
»Mit oder ohne weiblichen Wachhund?«
»Das Herz brach mir fast und ich schämte mich …«
»Dein Artikel hat seinen Zweck erfüllt«, berichtete Kleist zufrieden. Wir saßen auf der Terrasse unseres Hotels bei Milchkaffee und italienischen Dolci. »Die anderen Blätter und die Agenturen haben die Sache aufgegriffen und das Bundeskriminalamt hat daraufhin die Ermittlungen auf deutscher Seite an sich gezogen – Interpol koordiniert. Auch die Israelis werden mitmischen. Dass die Italiener die Existenz des USB-Sticks verschwiegen haben, schadet ihnen jetzt. Deshalb war ich in Mailand. Ich habe mich mit den Kollegen vom BKA und von Interpol besprochen.«
»Hat man eigentlich am Tatort keine Spuren sichern können, die auf den Täter zeigen?«
»Zigarettenkippen. Jemand hat da reichlich geraucht. Da ist DNA drauf, klar, aber womit sollen wir die vergleichen?«
»Und die Tatwaffen?«
»Es gibt nur eine. Alle fünf Opfer sind mit derselben Waffe erschossen worden. Aber auch das zeigt bisher ins Leere. Darum liegt der Schwerpunkt der Ermittlungen immer noch auf der Motivseite. Und deshalb ist der USB-Stick wohl sehr wichtig. Der einzige Anhaltspunkt ist die alte Massakergeschichte.«
»Weißt du inzwischen, was auf dem Stick ist?«
»Ja, alles, was Cohn über die Vorkommnisse im Jahr 1943 recherchiert hat. Besonders, was das Hotel in Meina betrifft. Er ist ein Nachfahre einiger der Opfer.«
»Ja, das hat Fabian Fellner mir auch erzählt.«
»Fellner? Wer ist denn das?«
Ich setzte Kleist ins Bild. »Wahrscheinlich geht es gar nicht um das Massaker allein, sondern auch um Geld. Viel Geld. Vermutlich Diamanten. Die Nazis haben die Juden ausgeraubt, bevor sie sie ermordet haben.«
»Ja«, nickte Kleist. »Cohn besaß einen Brief von seinem Großonkel Samuel Cohn. Er muss ihn kurz vor seiner Ermordung geschrieben haben. Dieser Brief war an seinen Bruder Leon in den USA gerichtet, Davids Großvater. Doch die Post ist nie abgeschickt worden, so hat es Cohn in seinen Aufzeichnungen notiert.«
»Woher hatte Cohn den Brief, wenn er nicht abgeschickt wurde?«, fragte Wayne.
»Das weiß ich noch nicht.«
»Hast du den Brief? Darf ich ihn lesen?«
»Ja. Auf dem Stick ist eine Fotodatei. Ich maile sie dir nachher. In dem Brief wird ein Name genannt. Steiger. Er war 1943 SS-Hauptsturmführer der ›Leibstandarte Adolf Hitler‹. Er hat den Cohns das Vermögen abgenommen, mit dem Versprechen, sie dafür in die neutrale Schweiz ausreisen zu lassen. Wenig später wurden dann Samuel Cohn, seine Frau, der Sohn und andere Gäste des Hotels am Ufer des Sees angespült. Man hatte sie mit Draht gefesselt, erschossen und im See versenkt – mit ziemlicher Sicherheit auf Anordnung Steigers.«
»Was ist aus dem SS-Mann geworden, diesem Steiger?«
»Er ist nie zur Rechenschaft gezogen worden, sondern einfach verschwunden. Das Simon
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