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Grass, Guenter

Grass, Guenter

Titel: Grass, Guenter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grimms Woerter
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neunundsechzig: von Passau bis Flensburg rauf
runter. Die Gründung von Wählerinitiativen bundesweit. Auf Stimmenfang
zwischen Aufschwung und Absturz. Und immer ging es um Wörter wie Arbeitermitbestimmung
und Kündigungsschutz für Arbeiter und Angestellte. Auch um Verlust, was
schmerzte, doch sein mußte: die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Legalisierte
Abtreibung, ein Reizwort. Die Abwertung, Aufwertung der D-Mark. Gestritten
wurde um das Kohleanpassungsgesetz und weitere Wortungeheuer wie
Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die nicht in den zweiunddreißig Bänden des von
Jacob und Wilhelm Grimm in Arbeit genommenen, aber erst gut hundertzwanzig
Jahre später im zum abschließenden Z gebrachten Wörterbuch zu finden sind: wie
sie mir greifbar nahe stehen, so daß ich zu suchen beginne, mich festlese, mich
immer wieder festlese.
    Doch
im ersten Band, der von A bis Biermolke reicht, hat zwar kurz vorm Arbeiterlohn
die Arbeiterin Platz gefunden, nicht aber die Arbeiterfrau, wie ich sie während
meiner neunundsechziger Wahlkampfreise in Mehrzahl, es waren an die
dreihundert, versammelt sah.
     
    In
Gelsenkirchen war das. Eine Werkkantine bot Platz. Zwischen zwei
Veranstaltungen wurde mein Auftritt geschoben. Auf Wunsch des örtlichen
Kandidaten. Oder ist es ein Gewerkschaftssaal in Wanne-Eickel gewesen?
    Jedenfalls
saßen dreihundert ältere Frauen - nur wenige ganz junge unter ihnen - an
gedeckten Tischen bei Kaffee und Gebäck. Ihre Söhne und Männer mochten auf Schalke
und anderen Zechen untertage malochen. Kein Mann hatte sich zwischen die
Arbeiter- oder besser Bergarbeiterfrauen gewagt, die ganz und gar auf Streusel-
und Butterkuchen konzentriert zu sein schienen. Außerdem hatten sie einander
was zu erzählen. Nur halblaut, aber unablässig. Kaum hörten sie, was ihnen von
der Stirnseite des Saales, wo ein Podest das Stehpult erhöhte, an wiederholt
gehärteten Argumenten und weichgespülten Ausflüchten geboten wurde. Dort
bemühte sich ein Gewerkschaftsfunktionär, der zugleich als Bundestagskandidat
auftrat. Mit Hilfe des Mikrophons versuchte er, Statistiken zu beleben, indem
er längst Vergangenes, die Kohleförderung während des Hungerwinters
siebenundvierzig, der bitterkalt war, in Erinnerung brachte: »Ohne uns Kumpel
war überall der Ofen aus gewesen!«
    Dann
aber beschwor er mit nunmehr ins Heisere umschlagender Stimme zukünftige
Gefahren für den Kohlebergbau an sich, nicht nur für die Schachtanlage
Schalke. Zu Halden aufgeschüttete Zahlen. Statistischer Auswurf. Der Abraum von
Bandwurmsätzen, die, wenn überhaupt, nur atemlos ihr Ende fanden. Anfänglich
ging es um drohende Arbeitslosigkeit, dann um das zukunftsverheißende
Kohleanpassungsgesetz.
    Ich
sah den mittlerweile übermäßig angestrengten Gewerkschaftsfunktionär und
spürte in meinem Rücken die Arbeiterfrauen. Ich ahnte, daß sie kaum Anteil
nahmen. Von Lohnabhängigen und gesetzlicher Lohnfortzahlung sprach er, von
gewinnsüchtigen Aktionären und bedrohten Arbeitsplätzen. Wiederholt das Wort
Ausbeutung. »Wir Arbeitnehmer«, rief er, »lassen uns nicht die Butter vom Brot
nehmen!« Schließlich ging er ab, entlohnt mit sparsamem Applaus.
    Nach
ihm sollte ich reden. Doch über was? Wenn schon der Kandidat, der über
Arbeitsbedingungen mehr zu sagen wußte, als auswendig zu lernen mir möglich
gewesen wäre, kaum Gehör fand, was hätte ich den knapp dreihundert Frauen
bieten können?
    Schon
bevor ich ans Pult fand, brach mir Schweiß aus, der sprichwörtliche. Aber das
Wort Angstschweiß steht ohne literaturkundiges Zitat im Grimmschen Wörterbuch.
Hier wird eines nachgeliefert: mir stand er auf der Stirn.
    Mein
ausgefeiltes Manuskript, dessen rhetorischer Aufwand Jungwähler, lesende
Hausfrauen und vom Schuldienst erschöpfte Lehrer motivieren mochte, wäre zu
hochfahrend gewesen. Also ließ ich es liegen, sprang ins kalte Wasser und
begann freiweg zu reden, indem ich Geschichten erzählte, zum Beispiel die über
Gustav Heinemann, den erst vor kurzem ins Amt des Bundespräsidenten gewählten
Sozialdemokraten.
    Knapp
sei es dabei zugegangen. Die Christdemokraten hätten keine Scheu gehabt, die
über zwanzig Stimmen von Altnazis als NPD-Angehörige der Bundesversammlung
zugunsten ihres Kandidaten in Kauf zu nehmen. »Schamlos!« rief ich. Zum Glück
habe es dennoch, weil ausnahmsweise die Liberalen nicht gewackelt hätten, für
Heinemann gereicht, worauf er, frisch gewählt, auf die Fallenstellerfrage
eines Journalisten, »Herr

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