Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grass, Guenter

Grass, Guenter

Titel: Grass, Guenter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grimms Woerter
Vom Netzwerk:
Mitte der sechziger Jahre
im Auftrag des Komponisten Wolfgang Hufschmidt den ketzerischen Antitext zum
»Meißener Tedeum« dichtete, das dann, nach einigen Zensurschnitten, wie sie im
deutschen Arbeiter- und Bauernstaat üblich waren, sogar in Meißens Dom
uraufgeführt werden durfte - mir aber wurde der Antrag auf Einreise
abgeschlagen -, will ich jegliches Angebot zur weiteren Ausbeute außer acht
lassen, auch nicht auf den drückenden Alp kommen, gar Alpträume bemühen, zumal
sie im Grimmschen Wörterbuch nicht zu finden sind, sondern, wie Jacob es tat,
den Buchstaben A mit Azur abschließen.
    Diese
himmelblaue Farbe kam, wie sein Kommentar weiß, in Zeiten der Romantik als
Reimwort zu Flur, Spur und Natur besonders den Dichtern gelegen, so Achim von
Arnim und Clemens Brentano, während Bertolt Brecht seinerzeit Azur auf nur
reimte; mit Brentano jedoch, und mit Clemens' Schwester Bettine, die kürzlich
in Kassel auf Besuch weilte, wo sie ihrem kindlich gebliebenen Benehmen
entsprechend einigen Wirbel machte, grüßt schon der Buchstabe B.
     
    BRIEFWECHSEL
     
    Mit
dem barsch anlautenden Ausruf Ba! und dem Bä blökender Lämmer hebt, nachdem
das A abgeschöpft ist, im ersten Band des Wörterbuchs das B an. Gleich danach
ist baba als frühester Kinderlaut zu finden. Doch bevor Jacob Grimm dem
Gebabbel der Urlaute, die bis heutzutage unverwandelt geblieben sind, das
Stichwort baar und, in Klammern gesetzt bar für nackt und bloß folgen ließ,
beschwor er den Sprachgeist, als hätte er zu Beginn eine übergeordnete Instanz
beschwichtigen wollen: »die sprachen standen nicht still, aber in ihren
bewegungen waltete regel.«
    Noch
aber ist er nicht so weit. Eine Reihe Jahre wird verstreichen, bis es zum
Druck erster Lieferungen kommt. Noch immer bedrücken Jacob die Kasseler
Verhältnisse. Immer noch geht er in enger Schreibstube auf und ab. Nur begrenzte
Fensteraussicht hat der Asylsuchende in seines Bruders Wohnung gefunden. Kein
Blick mehr auf die Orangerie und den zum Horizont hin bergaufwärts dunkelnden
Wald. Gezählte Schritte hin und her. Auf blankgescheuertem Bretterboden. Eine
Wortstrecke liegt vor ihm, die er kaum begonnen hat zu beschreiten. Vorhin noch
scheiterte der Versuch, seinem Zettelkasten Ordnung beizubringen. Jetzt,
zwischen Tisch und mager bestelltem Bücherbord, fehlt, was in Göttingens
Universitätsbibliothek auf in die Breite gehenden Regalen greifbar gewesen war
und mit dem zweiten Buchstaben des Alphabets zurück ins Althochdeutsche hätte
führen können, in dessen Wortschatz oft P für B stand. Und noch weiter zurück,
bis zum Sanskrit muß er, in dem das BH in bhadsch und bhag bereits des Bäckers
backen vorklingen läßt. Weit holt er aus, als müsse er wie der einstige
Passagier der »Beagle«, der, nach England heimgekehrt, aus ersammelter Beute
die evolutionäre Entstehung der Arten zu beweisen begann, nun seinerseits die
Ursprünge jeglicher Wortbildung freischaufeln und in seinem Zettelkasten
bergen.
    Er
sitzt am Fenster, gebeugt. Kein Blick nach draußen. Er notiert
Lautverschiebungen, wie früh und rabiat das F das B bedrängt hat: »weshalb wir
hafer für haber sagen und käfig setzen, wo einst kebich stand.« Er greift in
den Kasten voller Belege: »unsere vorfahren müssen für berg ferg gesetzt
haben.« Ihm ist sicher, wie vormals das B verloren gegangen ist, »denn wenn die
barockdichter mit inlautendem B, etwa bei hembde und frembde übertrieben
haben, so fehlt es nunmehr bei wams und beim amt, die einst als wambes wärmten
und als ambt unumgänglich waren.«
    Jetzt
scheint ihn etwas zu belustigen, er lächelt, weil ihm kürzlich Besuch aus
Leipzig, der mit den Verlegern kam, beiläufig zu einer Notiz verhalf: »die
Sachsen sagen heute noch, wie früher geschrieben stand, berle statt perle.«
    Nach
einer Pause, die lang genug ist, B gegen P und P gegen B auszuspielen, höre
ich: »ein verdoppelt inlautendes B hat sich bei ebbe gehalten, doch niemand
will mehr abbt für abt schreiben.«
    So
kommt er mir nah. Vorm Fenster ist Winter. Bald wird ihm die neue Leselampe,
die Wilhelm als Ersatz für die qualmende geschickt hat, beistehen. Mit rundem
Buckel, wie von Ludwig Emil karikiert, sitzt er vorm überladenen Tisch, kramt
im Zettelkasten, schlägt eines der wenigen Bücher auf, die ihm geblieben,
genießt deren Altersgeruch, wird, so scheint es, von familiären Sorgen
eingeholt, denn nun schreibt er mit kratziger Stahlfeder dem fernen Bruder:
»vorhin kam der brennende

Weitere Kostenlose Bücher