Grass, Guenter
wortwörtlichem Geröll sieht er
sich gegenüber, abgelagert seit tausend und mehr Jahren, Schicht auf Schicht.
Lastende Ahnungen bemächtigen sich seiner. Mir ist, als hörte ich ihn »Nein!«
rufen. »Keine Verträge! Nichts, Bruder, das uns fesseln könnte...«
Und
draußen vorm Fenster quakt unablässig des Nachbarn Ente, von der kürzlich
Jacob, als er wegen der qualmenden Leselampe lamentierte, wissen wollte, ob
sie immer noch eintönig Laut gebe.
»Ja,
Bruder, sie quakt. Und eine nicht qualmende Leselampe wird dir mit nächster
Post zukommen. Doch achte bitte darauf, daß mit den Verlegern, so brav gesittet
sie anmuten mögen, nichts Schriftliches fixiert wird, das uns neuerlich in
Abhängigkeit bringen könnte. Du fehlst mir sehr. Auch zeigen die Kinder nach
dir Verlangen. >Wo ist Apapa!< rufen sie. Was aber das Wörterbuch
betrifft, bleibe ich schwankend.«
Schon
nach einiger Zeit, in deren Verlauf die Brüder einander in Briefen über
häusliche Mißlichkeiten und allerlei Querelen berichten, zudem immer wieder
ihre Trennung beklagen, fingen sie dennoch an, eher planlos als nach Methode,
Wörter zu sammeln: von A bis Z oder von Auge um Auge bis Zahn um Zahn. Mehr dem
Zufall als der alphabetischen Reihenfolge hörig, legten sie Zettel an und
baten mit dem Überschwang des Beginns Fachkundige wie die gelehrten Philologen
Lachmann und Haupt, aber auch weit verstreut lebende Freunde, zu denen Achim
von Arnims umtriebige Witwe, die auf Anhieb zu begeisternde Bettine gehörte,
mit ihnen auf Wörtersuche zu gehen und dabei jegliches Wort mit Anleihen aus
den Schätzen deutscher Dichtung zu belegen. Jacob zog Wilhelm mit sich.
Einschränkend
muß bemerkt werden, daß, während noch Wörtersucher und Zitatsammler - schon
waren es dreißig und mehr - in Dienst genommen wurden - wenngleich Lachmann und
Haupt bald absprangen -, erste Zettel nach Ordnung verlangten. Von Anfang an
sollte gestrenger Wille Maß und Auswahl bestimmen.
So
begann ihre Zettelwirtschaft. Von überall her schneite es Wörter und
wortbezügliche Zitate. Jedem aufgelesenen Wort hatten die Sammler seine
Herkunft nachzuweisen. Es galt herauszufinden, bei welchem Dichter das
jeweilige Stichwort bereits Vorklang gefunden hatte. Von Parzivals Gralsuche
und dem Nibelungenlied über Luthers Bibeldeutsch bis zu Goethes und Schillers
Gereimtem fand sich Zitierbares. Außerdem wollte Jacobs Ehrgeiz wissen, ob
dieses oder jenes Wort bei dem arianischen Bischof Ulfilas bereits gotisch
nachzuweisen sei, wie es sich alt- oder mittelhochdeutsch gewandelt habe. Die
Lautverschiebung und ihre Folgen. Was war dem Wortschwall der Mundarten abzuhören?
Welches Echo fand das eine, das andere Stichwort in den skandinavischen
Sprachen? Was klingt bereits im Sanskrit an? Welches deutschstämmig anmutende
Wort ist dem Latein entlehnt? Was soll mit anstößigen, weil schmutzigen Wörtern
geschehen, zumal wenn sie lebendig, weil volksnah sind? Welche Dichter waren
besonders stichhaltiger Zitate trächtig?
Nein,
ordnet Jacob an, keine Gegenwärtigen, kein Heine oder gar Gutzkow! Und wer sich
sonst zum »Jungen Deutschland« zählt. Eine Rasselbande Radaubrüder, wie Wilhelm
sagt. Er selbst wollte den Straßburger Prediger Geiler von Keisersberg
erschließen, aus dessen wortmächtigem Sprachvorrat »gleichsam naschen«. Einen
seiner Zuträger bat er brieflich, mit Fleiß Fischarts Nachdichtung des
Gargantua auf kräftige Anwendungen und Wortschöpfungen abzusuchen, weil
Fischart, gleich Rabelais, sprachvermögend gewesen sei. Andere sollten bei den
Barock-Poeten fündig werden. Jemand versprach, sich um Hans Sachs zu kümmern,
ein anderer, aus Lessings Werk beizusteuern.
Zugleich
mußte gelesen und gesammelt werden. Schnell greifbare und rar gewordene Bücher
wurden gewälzt. Es galt in Schottels und Adelungs überkommenen Wortsammlungen
nachzuschlagen, auch wenn Jacob deren Bemühungen eher geringschätzte. Doch
hatten die Brüder noch immer kein System gefunden. Planlos und wie auf gut
Glück fraßen sie sich durch den Wörterbrei. Einige Lieferanten mußten, weil
unzuverlässig, abgewiesen werden. Von arg war Arger abzuleiten. Und auch noch
das: Im fernen Göttingen schien Wilhelm von wechselnden Stimmungen eingetrübt
zu sein - der ihm angeborene Trübsinn. Und Jacob lief Gefahr, sich zu
verzetteln.
Hinzu
kam, daß hier wie dort durchreisende Besucher störten. Vage Andeutungen von
Berufungen nach Hamburg, in die Schweiz, nach Marburg, wo die Brüder
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