Grass, Guenter
finden. »Wurm!« fällt mir ein. Und
sogleich nach dem Ruf stochert Darwin mit seinem Gehstock in fetter Gartenerde
und ist mit einem Regenwurm, der zu Tage tritt, prompt bei dessen Verdauungsfunktion
und nützlicher Beschaffenheit, dem natürlichen Kreislauf, indessen Jacob Grimm
anderen Nährboden umgräbt und den Wurm gotisch bei Ulfilas nachweist, dann mit
Zitat den Lindwurm in nordischen Sagen als Drachen aufleben läßt und
übergangslos, doch mit erhobener Stimme, auf einen Kritiker des Wörterbuchs
namens Wurm kommt, den er, für Charles Darwin unbegreiflich, als »ihr gift
ablassende spinne« beschimpft.
Nun
reden sie jeder für sich, sind Einzelgänger, mehr noch Eigenbrötler, untauglich
fürs Zwiegespräch. Dabei hätte Darwin gleichfalls Grund, sich abfällig über
Kritiker seiner Evolutionslehre zu äußern und über Karikaturisten, die ihn
gehässig als Affen zum Gespött gemacht haben, aber der Naturforscher spricht
lieber über Galapagosfinken, wechselt dann von Riesenschildkröten zu
Rankenfüßlern, ist abermals bei seinen anpassungsfähigen Vögeln, schließlich
doch noch bei den Affen und deren Wandlung zur noch immer nicht fertigen
Gattung Mensch. Bald aber findet er zu rankenden Gewächsen, worauf es dem
Sprachforscher leicht fällt, weil mit dem Buchstaben F befaßt, vom Flechtmoos,
und nach kurzem Blick auf Darwins Gesichtsflecken, auf den im Wörterbuch
anschließenden Fleck zu kommen, der sich zwar nicht gotisch nachweisen läßt,
aber im mittelhochdeutschen als flec erscheint und seit Anbeginn in Nähe zum
Flick steht wie Flecken zu Flicken.
Schon
schüttet er seinen bald verstummenden Gesprächspartner mit vielerlei sich
wandelnden Bedeutungen zu: der Fleck als Fleischfetzen, Kuttelfleck. Auf einem
Fleck stehen. Nicht vom Fleck kommen. Das fleckige Brautkleid. Oder mit
Schiller gesprochen: »jedwede tugend ist fleckenfrei bis auf den augenblick der
probe.«
Nun
versucht er doch auf den Naturforscher einzugehen, indem er des so stolz
wellenbeherrschenden Britanniens großräumige Macht lobt und im Vergleich den
kleinteiligen Zustand seines Vaterlandes als deutschen Flecken- oder
Flickenteppich beklagt. Aber sobald ihm Darwin, als wolle er ihn trösten, mit
dem mählichen Wachstum der Korallenriffe antwortet und deren Lebensräume mit
Lebewesen bebildert, für die Jacob keine Worte findet, rettet er sich, mit
Vorgriff auf den vierten Band des Wörterbuchs, in die vielen Abwandlungen des
Stichwortes Friede bis hin zum, seiner Meinung nach, schwächeren Frieden, der
wie Wille zu Willen wurde.
Ich
höre ihn, während sie im Schatten eines Ahorn verweilen, aus dem Gedächtnis
die bei Hans Sachs zu findende Verkürzung rufen: »da kam ein knecht, schrei
fried, fried, fried!« Er bietet dem wiederum sprachlosen Gesprächspartner den
Friedboten, das Friedensfeuer, den Friedensengel an, huldigt Schillers
Friedensfürst, läßt Goethe sagen »da nach vorüberfliegender friedenshofnung
neue sorge eintrat« und endet scheinbar mit der Friedenstaube, über deren
aufdringliche Symbolträchtigkeit der Naturforscher nur den Kopf schütteln kann,
findet aber nunmehr über Kants Wirtshausschild »Zum ewigen Frieden« auf den
Friedhof, dessen bloße Erwähnung Charles Darwin vertreibt; fürchtet er doch
den Tod mehr als alle unwissenden Pfaffen. Ich sehe, wie er über die Wiese
flüchtet, zwischen Rhododendronbüschen verschwindet, verkleinert wieder da ist,
nun zum Horizont hin eilt, den das Tempelchen als Pavillon überragt.
Jacob
Grimm jedoch führen viele den Friedhof säumende Zitate an seines Bruder Grab
und bald darauf zu weiteren Gräbern, in denen Freund und Feind Friedhofsruhe
gefunden haben.
Fern
in Bonn war ihm Dahlmann, der Mitstreiter aus Göttinger Zeit, gestorben. Viel
hatte man sich nicht mehr zu sagen gehabt.
Im
Jahr darauf nahm er von seinem einst geliebten Lehrer an Marburgs Universität,
dem ihm mittlerweile entrückten Savigny Abschied. Stumm, doch inwendig reich
an Wörtern, stand er an dessen Sterbebett.
Der
nur wenige Jahre ältere Ludwig Uhland, von dem er gemeint hatte, jener sei
»schnittreifer als er« und an dessen Seite sein Platz in der
Paulskirchenversammlung gewesen war, starb etwa gleichzeitig mit dem Erscheinen
des dritten Wörterbuchbandes. Als ihm auch dieser Freund genommen, bedauerte
er nun doch, nicht wie Uhland als »erklärter democrat« enden zu können.
Zudem
ging ihm in Kassel der letzte Bruder, Ludwig Emil, verloren, dem er mit Wilhelm
so oft das
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