Grass, Guenter
Profil zum feinstichigen Abzeichnen geboten hatte.
Zu
viele Tote. Deren andauerndes Flüstern. Einst bewohnte, nun leergefegte Räume.
Und auf Papier gereiht die Fülle vormals lebensstarker, nun abgestorbener
Wörter: Fluder, fludern, der Fluderer, die Fluderei... Zu alledem enttäuschte
ihn sein bis dahin so feinfühliger und mit Geduld begabter Verleger Salomon
Hirzel, der, nur flüchtig auf Besuch in Berlin, Vorschläge unterbreitete, die
geeignet waren, ihm weitere Arbeit am Wörterbuch zu vergällen.
Vereinsamt
wie er sich sieht und ermüdet von der Schufterei in der Tretmühle nicht
endenwollender Wortabfolge, schreibt Jacob einen seitenlangen Brief an jenen
Mann, der ihm bis dahin als jemand gegolten hatte, »der andern am auge absieht
was ihnen lieb ist. diesmal haben Sie doch nicht in meinem innersten gelesen.«
Er
wirft Hirzel vor, »wiederholt auf beschleunigung des Wörterbuchs« gedrungen und
»gewaltsame maszregeln« vorgeschlagen zu haben. Er hingegen wolle »selbst bei
langsamerem gang der arbeit« keine Gefahr für deren Fortgang sehen: »während
ich noch am leben bin; für den todesfall, der allerdings immer näher tritt und
plötzlich sich ereignen kann, müssen bestimmungen getroffen werden...«
Dennoch
hatte Jacob nicht vor, das Wörterbuch »aus den äugen zu verlieren«. Er fährt
fort: »mitten unter andern arbeiten las ich nebenher vier bände alter romane
genau durch, zog ihre redensarten aus und trug ordentlich in die sechs ersten
buchstaben nach was dahin gehörte.«
Dann
beteuert er: »wie oft habe ich mich im voraus gefreut auf die buchstaben
L.M.N., die ungefähr die mitte des alphabets bilden und dem bearbeiter die
allerangenehmsten des ganzen werks sein müssen, sie hätten etwa in unsern
fünften band zu fallen, ob ich selbst bis zu ihnen reichen würde liesz ich
völlig dahin gestellt, mein Vorsatz war fortzufahren, so lange mir das leben
und die arbeitsfähigkeit anhält.« Auf Rat des Verlegers, den übrigens die
Arzte, der Sohn Herman und der Philologe Moriz Haupt bekräftigen, er solle sich
»die wörter zuarbeiten lassen«, gibt er bündige Antwort: »es gehörten schüler
dazu, deren ich keine gezogen habe, meiner natur entspricht zu lernen, nicht zu
lehren, ich weisz gar nicht vorher was aus dem artikel werden wird, den ich
angreife...«
Schließlich
pocht er auf sein Recht, die Arbeit »ungedrängt« fortzusetzen, »oder ich gebe
es auf (da es erst mit meinem leben erlischt) und trete ab. dann aber gleich
von jetzt an, ohne dasz ich einen buchstaben mehr schreibe. Hildebrand, Lexer,
oder mit wem Sie sonst wegen der fortsetzung übereinkommen, können bei spalte
33 eintreten wie an jeder andern stelle, mir aber wäre unmöglich zur fremden
fortsetzung noch einen läppen zu geben.«
Diesen
Klagebrief schrieb Jacob Grimm am 18. Februar 1863, einem Mittwoch. Der ihm
nachgesagte, von seinen Brüdern Wilhelm und Ludwig Emil bewunderte, von Carl
und Ferdinand gefürchtete und verspottete Starrsinn, der ihn als Unersetzlichen
auswies, hielt schon seit Monaten an. Ab August des Vorjahres hatte er keine
Manuskriptsendungen auf den Weg nach Leipzig gebracht. Nun aber, vielleicht
beflügelt von Wörtern, die in seinem so langen wie grundsätzlichen Brief mit
fort anheben, geht eine Lieferung ab, die für den vierten Band des Wörterbuchs
bestimmt ist. In ihr bedeutet diese weder gotisch noch althochdeutsch nachzuweisende
Partikel innerhalb der dreieinhalb Spalten langen Erklärung zweierlei: »so ist
in fort sowol der vorschritt, fortschritt, das weitere, als auch ein abgang,
weggang, das ferne gelegen...«
Wieder
einmal liefert ihm Luther Belege: »haben doch nu fort die keine entschüldigung
die wissentlich zwingen und sich zwingen lassen.« Und Paul Gerhardt dichtet:
»dasz dich fort nich mehr erschrecke deines feindes ungestüm.« Eine Doppelung
ist bei Opitz zu finden: »die wir das trübe meer des irrthums fort für fort mit
groszer angst durchreisen.« Außerdem setzt er »für und für« anstelle von »fort
und fort«.
Danach
häufen sich in Jacobs Lieferung spaltenlang Anhängsel, die der Partikel Zweck
und Bedeutung auftragen, etwa beim fortarbeiten, das mit einem Jean-Paul-Zitat
wie beiläufig und doch treffend sein Verhalten gegenüber dem Verleger auf den
Punkt bringt: »ehrgeiz und zorn des greises, welche beide unter dem eis seiner
haare fortarbeiten.«
Mir hingegen, der ich fortwährend
seine wie meine Feder führe,
fällt es zu,
das begonnene Werk des
Weitere Kostenlose Bücher