Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
Vom Netzwerk:
Eines Morgens wacht man mit langen Fingernägeln und einem tauben Gefühl in den Ellbogen auf, und zur Teezeit ist man nur noch Talg und Knochenmehl. Es klingt paradox, aber obwohl mit großem Abstand Todesursache Nummer eins, sterben tatsächlich nur sehr wenige Menschen unmittelbar an Mehltau. Sobald ein Opfer die Diagnose erhält und seinen tränenüberströmten Angehörigen krächzend einen Abschiedsgruß hingehaucht hat, wird er in den nächsten Grünen Raum gebracht, wo er in einen sehr angenehmen Traumschlaf geschickt wird und von dort in den Tod. So ist es einfacher. Wenn der Hustenanfall kommt, liegt die Leiche längst sicher in einem Sack verstaut im Kühlhaus.
    Wir erreichten den Rand der Bannmeile, und die Schaulustigen, die sich versammelt hatten, machten Platz, um uns durchzulassen, doch nicht ohne uns mit Fragen zu bombardieren. Dad antwortete so schwammig wie möglich. Nein, er wisse nicht, ob Mehltau bestätigt worden sei oder nicht. Ja, Miss Pink habe die Situation unter Kontrolle. Ein Reporter des Zinnober Kurier bat ihn um ein Interview. Dad lehnte zunächst ab, doch dann erwähnte der Reporter, er beliefere auch das Spectrum mit Nachrichten, worauf Dad sich bereiterklärte, ein paar Worte zu sagen. Während er beschäftigt war, sah ich mich beiläufig ein bisschen unter den Stadtbewohnern um, behielt dabei aber auch die Zeit im Auge. Es waren noch einunddreißig Minuten bis zur Abfahrt unseres Zuges, und wenn zufällig ein lahmer Gelber Verifizierungsdienst hatte und wir unseren Anschluss verpassten, konnte es passieren, dass wir noch einen Tag länger hier verbringen mussten.
    Das war der Moment, in dem ich Jane zum ersten Mal sah. Natürlich wusste ich da noch nicht, dass es Jane war. Ihren Namen erfuhr ich erst im Laufe des Nachmittags, nachdem sie ihr sagenhaftes Zauberkunststück abgeliefert hatte. Normalerweise gucke ich Frauen nicht hinterher, schon gar nicht im Beisein von Constance. Bei dieser Gelegenheit aber gaffte ich geradezu. Ich war wie vom Donner gerührt, wie im siebten Himmel, hin und weg – wie immer man es nennen will. Ich weiß auch nicht, was mich überkam. Sogar jetzt noch, wenn man mich halb ersoffen aus dem Yateveo ziehen, auf einen Baumstamm setzen und mich fragen würde: »Sag mal, Eddie, was genau fandest du eigentlich so attraktiv an der Frau?«, ich würde einfach nur von ihrer perfekten, leicht nach oben gebogenen Nase schwärmen, von ihrem niedlichen Stupsnäschen, und man würde mich für verrückt erklären und kurzerhand wieder in die Yateveosuppe zurückbefördern. Vielleicht beeindruckte mich nicht das, was sie war, sondern das, was sie nicht war. Sie war nicht groß, sie war nicht gertenschlank, sie wirkte weder gelassen noch selbstsicher. Ihr Haar war mittellang und so hinten zusammengebunden, dass es die Zulässigkeitsgrenze nur knapp unterschritt. Sie hatte große, fragende Augen, die mich förmlich aufsaugten, und strahlte eine stille Wut aus, die unter der Oberfläche köchelte. Ein Zug an ihr aber war besonders auffällig, etwas Ungestümes, eine Gerissenheit, die sie wahnsinnig anziehend machte. Constance und ihre privilegierte Position waren im Nu vergessen, und ich, jedenfalls für den Moment, konnte an nichts anderes mehr denken als an diese farblose Graue in der Latzhose.
    Ich suchte nach etwas Passendem, um ein Gespräch anzufangen. Ich hatte einiges auf Lager, das, je nachdem, als geistreich oder intelligent durchgehen konnte, wenn auch nicht als beides. Warum ich überhaupt mit ihr reden musste? Keine Ahnung. In einer halben Stunde wäre ich von hier weg, und sehr wahrscheinlich würde ich nie wiederkommen. Aber ein paar Worte von ihr würden meinen Tag aufhellen, ein Lächeln von ihr mich gar eine ganze Woche lang begleiten.
    Ich wurde in meinen Gedanken unterbrochen. Ein Raunen ging durch die Zuschauermenge. Der angebliche Purpurne wurde auf einer Bahre und nicht in einem nahtlosen Polymersack aus dem Geschäft getragen, was bedeutete, dass es sich nicht um Mehltau handelte. Das wurde mit allgemeiner Erleichterung quittiert. Nur Janes Reaktion fiel vollkommen anders aus. Sie war nicht erleichtert, sie war besorgt. Mein Herz schlug plötzlich schneller. Sie wusste, wer der Mann war – und wahrscheinlich wusste sie auch, warum er hier war. Ich ging zu ihr und legte eine Hand auf ihren Unterarm. Doch meine Berührung, obwohl ohne jeden Hintersinn, löste einen wütenden Protest aus. Jane sah mich hasserfüllt an und knurrte bedrohlich: »Wenn

Weitere Kostenlose Bücher