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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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wenn’s das nicht gibt, dann ohne Schokolade.«
    Im Schaffnerabteil stapelten sich Kisten mit frischem Obst, Hühnerkäfige und Handgepäck, das nicht in die Güterwagen gehörte. Der Zug war zu klein, um die Arbeitskraft eines Grauen in einem Büffettwagen zu vergeuden, daher gab es nur eine kleine Kochnische zur Selbstbedienung. Ich war nicht allein im Schaffnerabteil. Auf einem Turm aus Lederkoffern saß ein ungepflegt aussehender Mann mittleren Alters, der in seiner Standard-Gesellschaftskleidung Nr. 4 – sportliche Freizeitjacke, gestreiftes Hemd und eine lose gebundene, unscheinbare Krawatte – völlig deplatziert wirkte. Als Reisekleidung denkbar ungeeignet. Auf dem speckigen Revers klebte ein fahles Gelbes Farbkennzeichen, und auf dem Kopf fehlte nicht nur der saubere Mittelscheitel, das Haar hatte überhaupt keinen Scheitel. Ich hätte ihn gleich, als ich seinen Farbton sah, links liegen lassen sollen, doch ein Gefallener Gelber hat immer etwas unsagbar Trauriges – vielleicht deswegen, weil andere Gelbe ihn noch mehr hassen als uns. Ich zündete den Spirituskocher an und setzte den Kupferkessel auf.
    »Wohin fahren Sie?«, fragte ich ihn.
    »Smaragdstadt«, sagte er leise, »mit dem Nachtzug.«
    Er meinte zum Reboot. Die Ankunft am Reformkolleg bei Tagesanbruch sollte einen Neuanfang symbolisieren.
    »Dann sind Sie im falschen Zug«, bemerkte ich. »Der Grüne Sektor Süd befindet sich auf der anderen Seite des Kollektivs.«
    »Je weiter weg, desto besser. Ich bin seit einer Woche überfällig. Sie haben nicht zufällig was zu futtern dabei, oder?«
    Ich gab ihm ein Stück Kümmelkuchen aus der Küche und steckte zehn Cent in die Dose. Er verschlang das Gebäck hungrig, dann nannte er mir seinen Namen, Travis Canary aus Kobaltstadt.
    »Eddie Russett«, stellte ich mich vor, »aus Jade-unter-der-Limone, Grüner Sektor West.«
    »Freundschaft?«
    Es war ungewöhnlich, von einem Gelben die Freundschaft angeboten zu bekommen, und normalerweise hätte ich abgelehnt. Doch irgendwie mochte ich ihn.
    »Freundschaft.«
    Wir gaben uns die Hand.
    »Und wo fährst du hin?«, fragte er.
    »Ost-Karmin. Der Mustermann dort ist überraschend in Rente gegangen, und mein Vater soll ein paar Wochen für ihn einspringen, bis sie einen Nachfolger gefunden haben.«
    »Ich wollte auch mal Mustermann werden«, sagte Travis, der gedankenverloren mit dem Etikett an einer Frachtkiste mit Kakaobohnen spielte. »Leute heilen und so. Aber ich bin Sortierbüroleiter, dritte Generation, deswegen hatte ich gar keine Wahl. Warum begleitest du deinen Vater? Bist du bei ihm in der Lehre?«
    »Nein«, antwortete ich. »Ich habe Bertie Magenta beim Mittagessen dazu gebracht, die Elefantennummer zu machen. Zwei Milchfontänen schossen aus seiner Nase und ergossen sich über Miss Bluebird. Ich habe mich erfolgreich auf Jux-Status herausgeredet, aber der Oberpräfekt meinte, ein bisschen Nachhilfe in Demut könnte mir nicht schaden. Bertie ist nämlich sein Sohn.«
    »Haben sie dir eine Sinnlose Aufgabe gestellt?«
    »Ich soll eine Stuhlzählung durchführen.«
    »Hätte schlimmer kommen können«, bemerkte er grinsend.
    Das stimmte. Die Ernährungsforschungseinrichtung der Zentrale hätte mich auch dazu verdonnern können, die Stuhl konsistenz des Kollektivs zu ergründen. Wohlgemerkt, das wäre der schlimmste Fall gewesen.
    Ich fand Tee und tat eine Portion in ein häuschenförmiges Tee-Ei, dann suchte ich vergeblich nach etwas Zitrone. Travis sah sich um, fasste dann in seine Tasche und holte einen silbernen Farbmusterbehälter hervor. Er klappte die Dose auf, starrte intensiv auf die darin versteckte Farbe und sagte dann: »Auch ein bisschen Limone?«
    Ich überlegte kurz, ob er mich zu einem Regelverstoß verführen wollte, um mir anschließend ein paar Meriten abzupressen, aber er wirkte wie ein Geprügelter, so hungrig und verloren, dass es aufrichtig gemeint sein musste. Außerdem hatte ich seit Monaten kein Grün mehr gelinst. Mein Vater war ziemlich streng in der Beziehung, weil er meinte, Limone könnte zu stärkeren Farben führen, andererseits war er aber auch realistisch: »Wenn du den Ishihara gemacht hast«, hatte er mal zu mir gesagt, »kannst du dir angucken, was du willst. Das ist mir beigeegal.«
    »Na dann los.«
    Travis hielt mir die Dose hin, und als mein Blick auf die beruhigende Tönung fiel, spürte ich, wie sich meine Muskeln entspannten und meine Angst vor der Reise nach Ost-Karmin nachließ. Alles auf der Welt kam

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